Kein johanneisches Anglerlatein!

Literarische Kraftquellen im leidvollen Erleben

Ich bin dem Evangelisten Johannes dankbar, dass er in seinem Evangelium die Erlebnisse und Erfahrungen der ersten christlichen Gemeinden in mehreren Auferstehungsgeschichten weiter gedichtet hat. Sie geben mir Kraft. Sie haben auch mit meinem und unserem Leben zu tun. Am dritten Ostersonntag hörten wir die Stelle aus dem Kapitel 21, Verse 1-14. Sie steht unter dem Titel „vom reichen Fischfang“. Eigentlich hat Johannes sein Evangelium schon abgeschlossen. Doch es ist wie bei verliebten Menschen, die nicht aufhören können, sich noch etwas zu sagen, auch wenn sie sich schon verabschiedet haben. So möchte auch Johannes noch etwas hinzufügen. Und wir wissen schon: In diesem Text ist alles voller archetypischer Bilder, die unsere Existenz erhellen, wenn es gelingt, die Tiefe der Bilder zu begreifen.

Nach den schrecklichen und traumatischen Ereignissen der Hinrichtung Jesu versuchen sich die Jüngerinnen und Jünger in ihrer alten Situation und in ihrer angestammten Heimat Galiläa zurecht zu finden. Sie sind wieder am See Tiberias, dort, wo die Jesusgeschichte begann.Sie sind in ihre alten Berufe zurückgekehrt. Simon Petrus versucht neu durchzustarten und sagt ganz praktisch: „Ich gehe fischen.“ Auch seine Freunde gehen mit. Doch es will zunächst nichts mehr gelingen. Sie können nicht mehr wie früher. Ihre Netze bleiben leer. Ohne das frühere Leben scheint nichts mehr zu gelingen, selbst das nicht, was sie so gut kannten. Es ist Nacht am See Tiberias. Dunkelheit. Und zusätzlich noch: Ein Ausgesetztsein am See, auf dem Wasser, unbekannte Tiefe unter sich, kein tragender Grund.

Mich erinnert es an Lebenssituationen, die wir selbst, in Bekanntenkreisen oder in unseren Lebensbereichen durchlitten. Nach einer Krise in einer Freundschaft, dem Bruch einer Beziehung oder gar nach dem Verlust eines Menschen, in einer körperlichen oder seelischen Krankheit, nach der Erkenntnis, dass ein bestimmter Weg nicht einfach weiter gehen kann oder nach dem Scheitern in einem Aufgabenbereich folgt ein seelisches Loch. Dann können nicht einfach mehr auf gewohnte Weise „Fische gefangen“ werden.

Der Netzwurf auf der rechten Seite

In eine solche Situation hinein spricht Jesus zu den Jüngern: „Werft die Netze auf der rechten Seite aus!“ Warum rechts? Aus der Sicht eines Fischfangs macht es natürlich keinen Sinn. Das wäre unlogisch, wie so viele Aspekte in dieser Geschichte, wenn sie wortwörtlich genommen würde. Wieder gilt es, den metaphorischen Sinn zu erfassen. Das Bild kann bedeuten: Probiert es nun einmal anders! Werft die Netze dort aus, wo ihr es vorher noch nicht getan habt! Aber gebt nicht auf! Habt den Mut, nun anders durchzustarten! Ihr könnt es! Psychologisch-biologisch gesehen ist die rechte Seite von besonderer Bedeutung. Neurowissenschaftlich ist zwar das Hemisphäremodell von linker und rechter Gehirnhälfte überholt. Bildhaft trifft es jedoch weiterhin zu: Die rechte Seite bedeutet den Sitz von Emotionalität, Kreativität und Körperlichkeit.

Wer liebt, erkennt

Auch in diesem letzten Kapitel des Johannesevangeliums spielt der so genannte „Lieblingsjünger“ Jesu eine entscheidende Rolle. Von ihm heißt es schlicht und doch so gewichtig: „Da sagt jener Jünger, den Jesus liebte …“ In dieser Liebesbeziehungsqualität wird deutlich, wo und wie Erkenntnis möglich ist. Jeder kann dieser Lieblingsjünger sein. Wie die Befreiung geschehen kann, wie eine Jesusbeziehung gelingen kann, das ist im tiefsten stets eine Frage der Liebe und nicht des analytisch-abstrakt-logischen Begreifens, so sehr diese Dimension auch wichtig ist.

Die Nacktheit des Petrus

Was mag nun der Hinweis in der johanneischen Erscheinungslegende bedeuten, dass Simon Petrus „nackt“ war? Er musste wohl zuerst ganz seine Nacktheit begreifen und seine körperliche Schutzlosigkeit annehmen, um sich dann auf eine neue Lebenssituation einzulassen. Nur so macht es Sinn, wenn der Evangelist Johannes den Simon zuerst sein Obergewand anziehen lässt, bevor er eilig ins Wasser springt. Simon Petrus gürtet sich für ein neues Leben, weil er zuvor das paradiesische Adam-Eva-Erlebnis gehabt hat, sich nicht mehr verhüllen und verbergen zu müssen.

Bereit zu neuen Wagnissen

Das „Wagt es anders!“ hat gerade heute angesichts von Klimaveränderung, Artensterben und militärischer Aufrüstung eine große politische Dimension. Auf vielen Pappkartons der Friday for Future-Kundgebungen haben Schülerinnen und Schüler geschrieben „SYSTEM CHANGE, NOT CLIMATE CHANGE“. Die Antiglobalisierungsbewegung brachte es schon vor vielen Jahren mit dem Slogan „EINE ANDERE WELT IST MÖGLICH“ auf den Punkt. Weiterzumachen wie bisher ist nicht die Antwort!

Damit sowohl im privaten wie im politischen Bereich jedoch solche Auferstehungserfahrungen möglich werden, brauchen wir einander, brauche ich Menschen, die mir wie Jesus zurufen: „Wage es!“ In solchen Menschen begegnet mir heute der Auferstandene! Dann werden auch unsere Netze voll sein, mit 153 Fischen, soll heißen: Mehr als genug und doch für jeden und jede so viel, wie wir zum Leben brauchen. Das ist die Erfahrung von Fülle, wie sie in liebevollen Beziehungen lebendig wird.

Klaus Heidegger, 7.5.2019