Franz Jägerstätter und die Frage des Pazifismus

Wenn ich die Österreichische Bundeshymne mit „Heimat bist du großer Söhne“ höre, dann muss ich an einen ganz bestimmten Mann denken: an den Innviertler Bauern Franz Jägerstätter. In den vergangenen Jahren ist seine Bedeutung mehr und mehr gewachsen. In kirchlich-friedensbewegten Kreisen ist Jägerstätter weit über das Land hinaus zu einer Ikone des katholischen Protests gegen das Hitler-Regime und einer religiös motivierten Verweigerung des Kriegsdienstes geworden. Die Zahl jener, die sich jeden 9. August zu einem Treffen im Gedenken an Jägerstätter in Ostermiething und St. Radegund treffen, ist kontinuierlich gewachsen und eint Bischof mit kirchenkritischen FriedensaktivistInnen. Manfred Scheuer, Bischof von Linz und Präsident der ökumenischen Friedensbewegung Pax Christi, hatte das Seligsprechungsverfahren von Jägerstätter eingeleitet. 2007 erfolgte seine Seligsprechung. Der 21. Mai gilt seither als kirchlicher Gedenktag. Kirchenleitung und friedensbewegte Basis sind sich in diesem Punkt einig. Jägerstätter ist ein Vorbild. Doch welches Vorbild?

Die Eckdaten seines Lebens kann ich weitgehend als bekannt voraussetzen:

Seine Heimat ist das Innviertel. Sein Heimatort St. Radegund. Dort ist er 1907 geboren. Der Widerspruch könnte kaum größer sein. Auch Adolf Hitler ist gebürtiger Innviertler. Braunau und St. Radegund sind nur wenige Kilometer voneinander entfernt. Hitler geht als größter Verbrecher in die Geschichte der Menschheit ein, Jägerstätter steht für das ganz Andere: Den religiös motivierten Widerstand gegen das Unmenschliche, der katholisch geprägten Verweigerung des Kriegsdienstes. Er war ein tiefreligiöser Mensch. Seine Frau Franziska Jägerstätter hatte maßgeblichen Anteil daran. Zusammen haben sie drei Kinder. Die Jägerstätters sind Bauern. Franz ist auch Messner. Es kommt die Zeit der Schreckensherrschaft. Jägerstätter verweigert von Anfang an jede Zusammenarbeit oder Unterstützung mit den Nationalsozialisten. 1940 wird er zum Militärdienst einberufen, auf Betreiben der Heimatgemeinde aber zweimal als unabkömmlich gestellt. Einer weiteren Einberufung will er nicht mehr Folge leisten. Viele, darunter auch Priester, versuchen ihn umzustimmen. Wegen Wehrkraftzersetzung wird Franz Jägerstätter zum Tod verurteilt und am 9. August 1943 in Brandenburg enthauptet.

Jägerstätter war ein Opfer der NS-Blutjustiz. Über 46.000 Todesurteile sind von der NS-Justiz ausgesprochen worden. Das Landgericht Berlin hatte erst vor wenigen Jahren das Todesurteil der NS-Terrorjustiz gegen Franz Jägerstätter aufgehoben. Er ist damit einer der ersten aus der großen Gruppe der „Wehrkraftzersetzer“, der eine Rehabilitierung erfuhr.

Wie sieht die kirchliche „Rehabilitierung“ aus – sollte eine solche notwendig sein? Der Sachverhalt ist widersprüchlich: Einerseits hat die offizielle Kirche Jägerstätter lange im Sturm und Regen militärischer Werthaltungen und obrigkeitsstaatlichen Denkens stehen gelassen. Jägerstätter selbst wurde zu seiner Zeit vom Heimatbischof und von einem großen Teil des Klerus wegen seiner Verweigerung kritisiert. Ereignisse, wie die unselige Erklärung des österreichischen Episkopats, mussten Jägerstätter verunsichern. Andererseits gab es aber auch einige wenige aus dem Klerus, die Jägerstätter ermutigten. Die kirchliche Entdeckung Jägerstätters kam zuerst von außerhalb. Der US-amerikanische Soziologe Gene Sharp schrieb die erste grundlegende Biographie über Jägerstätter. Im Jahre 1965 verwies Erzbischof Thomas D. Roberts  bei der Arbeit an der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils in einer schriftlichen Eingabe auf die einsame Gewissensentscheidung Franz Jägerstätters. Sein Vorbild wurde somit ein Beitrag zu einer neuen kirchenamtlichen Sicht von Wehr- und Zivildienst, die die Gewissensfreiheit und in gewisser Hinsicht damit auch eine Gleichrangigkeit beider Dienste betonte. Eine prinzipielle Infragestellung militärischer Dienste, wie dies in der jüdisch-christlichen Tradition als Grundhaltung anzutreffen ist, war damit jedoch noch nicht gegeben.

1995 wurde von Vertretern des österreichischen Militärs überlegt, eine Kaserne in Oberösterreich nach Franz Jägerstätter zu benennen. In diesem Kontext wird öfters betont, dass der Kriegsdienstverweigerer aus St. Radegund kein Pazifist gewesen sei. Es wird behauptet, dass er zwar den Dienst in der Deutschen Wehrmacht unter Hitler abgelehnt habe, jedoch mit einem Fahneneid auf das österreichische Bundesheer heute keine Schwierigkeiten hätte. Er sei daher kein Pazifist gewesen. Manche wollen ihn gar als „heiligen Soldaten“ sehen.

Ist die Gestalt von Franz Jägerstätter also keine Anfrage an den militärischen Dienst, keine Infragestellung militärischer Gewalt und keine Provokation für militärische Konfliktlösung? Ist seine Verweigerung wirklich nur ein Nein zu Hitler und der Deutschen Wehrmacht gewesen oder nicht vielmehr auch ein Nein zu jeglicher kriegerischer Gewalt? Aus kirchen(politischer) Sicht gesprochen: Stellt Franz Jägerstätter nicht auch eine Anfrage an die Institution des Militärordinariats dar, das unter den Militärbischöfen Kostelecky, Werner und Freistätter stets als offene Legitimation für das Militärische diente?

Ich möchte an dieser Stelle nicht auf die Argumente eingehen, die eine Jägerstätter als Mann charakterisieren, der nicht den Kriegsdienst an sich abgelehnt hätte, sondern den Dienst in einem ungerechten Krieg.  Die konsequente und mutige Verweigerung des Bauers und Messners aus St. Radegund wäre um nichts geringer, hätte er diese Entscheidung nur aufgrund seiner Ablehnung des Hitlerregimes getroffen. Sein Vorbild und seine Einstellungen jedoch – so möchte ich hier argumentieren – tendieren in eine Richtung, die auch für die heutigen Fragen von Kriegsdienstverweigerung relevant sind. Franz Jägerstätter ist nicht nur ein bedeutsames Vorbild des Widerstands gegen ein totalitäres und menschenfeindliches Regime, sondern auch gegen ein Denken und eine Haltung, die Konflikte mit militärischen Instrumenten zu lösen versuchen.

Kann Jägerstätter als Pazifist bezeichnet werden? Unter Pazifismus verstehe ich eine Lebensorientierung, in der sich eine Person innerlich verpflichtet fühlt und sich dazu entscheidet, militärische Gewalt als Mittel der Konfliktlösung abzulehnen. Ein Pazifist bzw. eine Pazifistin verweigert somit den Kriegsdienst und die Beteiligung an Kriegen in jedweder Form. Weder Krieg noch militärische Verteidigung oder militärische Intervention werden als richtiger bzw. sinnvoller Weg gesehen und prinzipiell und kompromisslos abgelehnt. Aktuelle Ereignisse signalisieren, dass auf nationaler und internationaler Ebene pazifistische Positionen an den Rand und militaristische Optionen in die Mitte gerückt werden. Hand in Hand mit dem Erstarken rechter Positionen findet in europäischen Ländern – und auch in Österreich – eine militärische Aufrüstung statt. Ob Flüchtlingsabwehr oder Terrorbekämpfung – die herrschende Politik setzt auf das Militär.

Die biografischen Daten Franz Jägerstätters zeigen, dass er – wie eine Vielzahl großer Pazifisten – nicht schon als Pazifist auf die Welt gekommen ist. Erna Putz nennt ihn einen „geistig Suchenden“. Manfred Scheuer schreibt von einem „Lernprozess“, einem Leben, das wie bei vielen Heiligen, keine reine Erfolgsgeschichte oder ein Heldenepos oder keine gerade Fahrt auf einer Autobahn sei. Die Jahre vor seiner Hinrichtung waren gekennzeichnet von einer deutlichen Entwicklung. Sie reichte von seinem widerwilligen Soldateneid (Fahneneid auf den Führer) und sechsmonatigem Dienst bei der Deutschen Wehrmacht 1940/41 bis zu seinem kompromisslosen Nein zum Militärdienst. Die Konfrontation mit dem Militär und den Militärgerichten hatte Jägerstätter gezeigt, dass die deutsche Hitlerwehrmacht nicht nur einen ungerechten Krieg führte, sondern dass er aufgrund seiner Orientierung am Evangelium dem kriegerischen Dienst überhaupt ablehnend gegenüberstand. Der NS-Staat hat letztlich die Tat Jägerstätters als militärische Verweigerung verstanden. Er wurde vom Reichskriegsgericht für „wehrunwürdig“ und wegen „Wehrkraftzersetzung“ zum Tode verurteilt. Die offizielle Anklage galt also nicht Jägerstätters Ablehnung des Hitler-Regimes, sondern seiner militärischen Verweigerung.

 

Auf der ganzen Welt machen Menschen, die sich den Fragen von Militär und Krieg plötzlich gegenübergestellt sehen, ähnliche Erfahrungen. Da sind in Österreich beispielsweise Präsenzdiener, die erst im Laufe ihrer Dienstzeit erkennen, dass die Anwendung militärischer Waffengewalt zutiefst ihrer Überzeugung widerspricht. M. a. W.: Die Gründe und Motive einer Kriegsdienstverweigerung kommen vielfach erst nach einer Einberufung – das ist zugleich dann, wenn es zumeist keine legalen Verweigerungsmöglichkeiten mehr gibt.

Auf die geistige Entwicklung Jägerstätters, die von einer Ablehnung des Hitlerregimes über eine kritische Haltung gegenüber der Wehrmacht bis hin zu pazifistisch-christlichen Grundsätzen reicht, wird in der Literatur über Jägerstätter nur wenig hingewiesen. Die Gefängnisbriefe Jägerstätters dokumentieren jedoch, wie er zunehmend klarer seine Verweigerung als Verweigerung eines Dienstes im militärischen Apparat verstand. Jägerstätter bemühte sich freilich, seine Argumente je nach Gesprächskontext anzupassen. So konnte er gegenüber den Kirchenoberen durch und durch mit den klassischen Richtlinien des Gerechten Krieges argumentieren, während er zugleich – vor allem in den Briefen an seine Frau – Argumente verwendete, die als typisch pazifistisch gewertet werden können und primär ihre Basis in einer Orientierung an der Bibel orientieren.

Ein religiöser Mensch weiß sich in erster Linie an Gott gebunden. Angesichts solcher Priorität sind staatliche Verpflichtungen sekundär – sozusagen ein anarchistischer Grundzug jedes Gläubigen. Immer wieder dachte der oberösterreichische Bauer über den Charakter von Verpflichtungen nach und kam zu einer sehr klaren Sicht: Er lehnte das vorherrschende Denken ab, dass ein Soldat nur den Befehlen zu gehorchen hätte und die Verantwortung den Obrigkeiten überlassen könne. Oberstes Prinzip war für Jägerstätter der Gehorsam gegenüber dem eigenen Gewissen. Für Jägerstätter bedeutete dies freilich in keiner Weise ein Handeln nach individueller Beliebigkeit. Im Gegenteil: Auch das Gewissen hat sich zu orientieren. „Man soll nicht immer fragen oder sich fragen, bin ich über dies verantwortlich oder nicht, sondern ist es Gott auch wohlgefällig, was ich tue.“

 

Franz Jägerstätter litt darunter, dass die österreichische Kirchenleitung eine höchst unglückliche Erklärung zum Anschluss abgegeben hatte. Noch mehr hatte er als gläubiger Katholik damit zu kämpfen, dass sein Entschluss zur Wehrdienstverweigerung von seinem Heimatbischof nicht entsprechend unterstützt worden ist. Jägerstätters Schicksal ist sinnbildlich für das Verhältnis von Kirche und Militär. Christliche Pazifisten und Pazifistinnen wurden seit der Konstantinischen Wende stets von den Großkirchen verdrängt, blieben von einem Großteil der Hierarchen unverstanden und konnten in kirchenamtlichen Texten kaum Unterstützung für ihr Tun finden. Franz Jägerstätter stand in der pazifistischen Tradition der katholischen Kirche.

Mit diesen Gedankengängen soll Franz Jägerstätter nicht zum Parade-Pazifisten stilisiert werden. Das würde seiner Person nicht gerecht werden. Gewiss muss seine Kriegsdienstverweigerung primär im Zusammenhang mit seiner Ablehnung des Hitlerfaschismus gesehen werden. Zugleich jedoch sollte klargeworden sein, dass pazifistische Grundeinstellungen in Jägerstätters Gestalt durch und durch zu finden sind. Demnach kann er von den Ideologen des „Gerechten Krieges“ und den heimischen Militärbefürwortern nicht vereinnahmt werden. Sehr wohl jedoch ist er eine Ermutigung für Pazifistinnen und Pazifisten, die an die prinzipielle Überlegenheit der Gewaltfreiheit glauben.

Klaus Heidegger, zum Jägerstättergedenktag, 21.5.2017