Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter als Ermutigung in Zeiten der Corona-Pandemie

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Eine Bildinterpretation: Vincent van Gogh, Der barmherzige Samariter (1889)

Der Maler und die Entstehung des Bildes

Vincent van Gogh hat dieses Bild 1889 zwei Monate vor seinem Tod gemalt. Er war damals in einem psychiatrischen Krankenhaus in der Provence. Van Gogh hat dazu eine 40 Jahre alte Vorlage eines sehr bekannten Bildes von Eugène Delacroi verwendet und dieses Bild dann auf seine Weise neu interpretiert. Das Bild lässt sich in die Kunstepoche des Impressionismus einordnen, die von 1860 bis 1920 dauerte.

Dieses Bild stellt daher auch so etwas wie ein Vermächtnis des Malers dar, ein letzter Wille sozusagen. Auch Van Gogh war bekannt für sein soziales Handeln und trägt die Züge des barmherzigen Samariters. Gogh selbst war sehr religiös und wollte ganz in der Nachfolge Christi leben.

Die Darstellung

Der Ort, in dem Van Gogh die Szene malt, könnte die Wadi-Kelt-Schlucht von Jerusalem nach Jericho sein, dort, wo laut Lukasevangelium das Gleichnis verortet sein könnte. Es zeigt zum einen den ausgeraubten und verwundeten Juden, seine aufgebrochene Schatztruhe, den vorbeigehenden Priester und Leviten und den Samariter bei der entscheidenden Szene – er hebt mühsam den Verletzten auf sein Pferd. Die aufrichtende Kraft und die erschlaffende Last des Verletzten kontrastieren in der Mitte des Bildes.

Van Gogh stellt also den Samariter zusammen mit dem Verletzten und dem Pferd in den Mittelpunkt des Geschehens, die zusammen eine Art Kreis bilden. Typisch für Gogh sind die geschwungenen Linien, die so viel Dynamik und Dramatik in das Bild bringen. Die Linien finden wir als Umrisse für das Gebirge, den Weg und die Wiese und sie lenken den Blick auf das Bildzentrum. Dieses wurde von Gogh großflächig gemalt – sowohl das Gewand des Samariters und des Opfers sowie das Pferd. Auch dies ist ein Stilmittel, um die Aufmerksamkeit auf das Zentrum zu erhöhen.

Der Maler verwendete vor allem helle Blau- und Gelbtöne. Erstere wirken kalt und die Gelbtöne eher warm. Auffallend ist also, dass das Gewand des Samariters goldgelb ist, der Weg wiederum korn-gelb. Die geöffnete Kiste im Hintergrund ist etwas grün-blau durchsetzt. Der Samariter und der verwundete Mann haben dieselbe blaue Hosenfarbe an. Der Priester und der Levit sind in Grau gehalten.

Am wichtigsten ist aber sicherlich die Körpersprache des Samariters. Er wird als sehr kräftig dargestellt. Er hebt den Verwundeten auf sein Pferd. Beim Hochheben fasst er ihn mit seiner rechten Hand an dessen linken Unterarm. Der Samariter dreht sein Gesicht dem Opfer zu, der seine Augen geschlossen hat. Der Verwundete hängt halb auf dem Pferd. Er stützt sich an der Schulter des Samariters, schlingt den rechten Arm um dessen Hals, um zusätzlich Halt zu finden, und krallt die Finger in dessen rechte Schulter. Das Gesicht des Verwundeten ist knapp vor dem des Helfers.

Das Bild und die Corona-Pandemie

Van Goghs Bild „Barmherziger Samariter“  kann für uns heute eine Antwort auf die Situation zur Zeit der Corona-Pandemie sein. Der Barmherzige Samariter könnte ein Arzt sein, der einen an Covida-19-Erkrankten in der Intensivstation in einer Klinik in Bergamo versorgt. Aber es könnten noch viele andere sein: die Pflegekräfte in den Spitälern genauso wie die Menschen, die für die Versorgung mit Lebensmitteln zuständig sind, Mitglieder von Rettungsorganisationen oder jenen, die in den Bereichen der Gesellschaft aktiv sind, ohne die das System zusammenbrechen würde. Letztlich aber können wir alle in vielen Situation „barmherziger Samariter“ oder „barmherzige Samariterin“ sein – auch dort, wo wir daheim sind. Das würde bedeuten zu erkennen, wo braucht mich jemand, wie kann ich dort trösten, wo jemand weint, dort heilen, wo es eine Verwundung gibt, dort Mut zusprechen, wo sich Mutlosigkeit eingeschlichen hat.

Textinterpretation „Der barmherzige Samariter“ aus dem Evangelium

Überlieferung

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist eine der bekanntesten Erzählungen Jesu im Neuen Testament. Es wird nur beim Evangelisten Lukas (Lk 10,25–37) überliefert. Es gehört also zu seinem „Sondergut“ – jener Quelle, aus der Lukas Texte bringt, die sonst kein anderer Evangelist hat.

Formale Einordnung

Genau genommen ist es in formaler Hinsicht kein Gleichnis, sondern eine Beispielerzählung, weil sie eine nicht alltägliche Begebenheit darstellt.

Kontext

Zu Beginn dieser Erzählung wird von einem Schriftgelehrten an Jesus die Frage gestellt, was wichtig sei, damit das Leben gelingt. Jesus fragte zunächst nach, was dazu in der Tora stehe. Der Schriftgelehrte zitiert das Schma Jisrael. Das ist das zentrale jüdische Glaubensbekenntnis (Dtn 6,5, Lev 19,18). Jesus betont die untrennbare Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe, wie sie in der Tora überliefert wird:

„Höre Israel, der Ewige ist Gott, der Ewige ist einzig. Gepriesen sei Gottes ruhmreiche Herrschaft immer und ewig! Darum sollst du den Ewigen, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“ (Dtn 6,5)

„Du sollst dich nicht rächen, auch nicht Zorn halten gegen die Kinder deines Volkes. Liebe deinen Nächsten, wie du dich selbst liebst. Ich, der Ewige.“ (Lev 19,18)

„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst.“ (Lk 10,27)

Nach diesem Schriftverweis fragt der Schriftgelehrte Jesus, wer denn sein Nächster sei. Daraufhin entfaltet Jesus die Beispielerzählung:

Nacherzählung

Ein Mann geht durch die Wüste von Jerusalem nach Jericho hinunter. Dabei gerät er unter die Räuber, die ihn ausplündern und schwer verletzt liegen lassen. Sowohl der vorüberkommende Priester als auch der später kommende Levit ignorieren ihn. Schließlich aber kommt der Samariter, sieht den Verletzten und erbarmt sich seiner. Er versorgt seine Wunden und transportiert ihn auf dem Reittier zur Herberge. Dort gibt er ihn in die Obhut des Wirtes. Dieser bekommt vom Samariter auch einen entsprechenden Lohn.

Der Nächste

In der Erzählung geschieht ein sehr bezeichnender Perspektivenwechsel. Der Schriftgelehrte bzw. Gesetzeslehrer fragt Jesus, wer der Nächste sei. Jesus erzählt das Gleichnis und fragt dann aus einem anderen Blickwinkel, wer von den dreien dem Überfallenen der Nächste gewesen sei. Der Schriftgelehrte vollzieht diesen Blickwinkel und erklärt, dass es der Samariter gewesen sei. Der Helfende (Samariter) wird dem Bedürftigen zum Nächsten.

Allerdings könnte man auch sagen, dass der Überfallene für den Samariter der Nächste ist. Beide sind sich zu Nächsten geworden.

Hinweise zur Deutung

Die besondere Pointe liegt in den 6 Personen bzw. sozialen Rollen, die in dieser Erzählung vorkommen. Sie repräsentieren ganz unterschiedliche soziale und religiöse Rollen, die es zur Zeit Jesu in Palästina gab, die wir aber auch heute noch in unserem Leben bzw. in der Gesellschaft wiederfinden.

  1. Da ist erstens die Rolle der Priester. Für sie galten bestimmte Reinheitsvorschriften (Gesetze). So durften sie beispielsweise nicht eine Leiche angreifen. Wäre der Mann tot gewesen, so hätte sich der Priester entweiht.

    Der Priester fragt also zunächst danach, was das Gesetz ihm sagt: Er sieht zwar die Not des Überfallenen, denkt aber daran, dass eine Hilfe nicht zum Buchstaben eines bestimmten Reinheitsgesetzes passen würde. So geht er vorbei.

  2. Ähnliches galt für den Leviten, der auf dem Weg zum Tempel war. Auch er hätte dann nicht mehr im Tempel dienen dürfen, wenn er etwas Unreines angegriffen hätte.

    Auch der Levit denkt an das, was ihm wichtig ist, nicht aber an den Halbtotgeschlagenen, sein Beruf, seine Karriere – all dies steht im Vordergrund.

  3. Überraschenderweise ist es dann aber gerade ein Samariter, der dem Überfallenen liebevoll hilft. Samaritaner galten im jüdischen Volk selbst als Außenseiter.

    Der Samariter denkt zunächst nicht an sich. Er fragt sich nicht, ob er vielleicht selbst durch die Räuber gefährdet werden könnte, wenn er nun helfend einschreitet. Er engagiert sich liebevoll. Bis ins Detail schildert Jesus seine Hilfe. Der Samariter handelt uneigennützig – aus reiner Liebe.

  4. Die vierte Rolle hat das Da spielt es in der Erzählung keine Rolle, ob das Opfer ein Jude ist oder von einer anderen Volksgruppe stammt. Ihm gilt das ganze Interesse.
  5. Die fünfte Rolle hat der Wirt, der für die Pflege des Verletzten nun verantwortlich gemacht wird.

    Wer hilft, braucht auch die Unterstützung einer größeren Gemeinschaft, für die stellvertretend der Wirt steht. In dessen „Haus“ wird das Opfer wieder zu Kräften kommen können.

  6. Nur genannt wird die sechste Gruppe von Menschen. Es sind die Räuber, die mit Gewalt einen Mann ausgeraubt und schwer verletzt haben, die Leben gefährden und Lebensmöglichkeiten stehlen.

Gesetz und Nächstenliebe

Jesu weist uns in diesem Gleichnis also daraufhin, wie wir handeln sollen: Es gilt, unabhängig von Herkunft und Nation zu sehen, wer in Not ist, wer Hilfe braucht. In diesem Sinne ist auch das Gesetz zu interpretieren. Die Rechte von Notleidenden stehen über gesetzlichen Bestimmungen. Mit dem Hinweis, dass es gerade die Vertreter des Gesetzes und der religiösen Elite sind, die gegen die Nächstenliebe handeln, wird die Herrschaftskritik Jesu deutlich.

Anwendung auf heutige Situation angesichts von Corona „Schau auf dich, schau auf mich“

In einer Krise wie der Corona-Pandemie können wir darauf achten, wo und wie die sechs Akteure vorkommen, die in der Beispielerzählung vom Barmherzigen Samariter protoypisch erwähnt werden. Die Rolle des Priesters und des Leviten, die wegschauen und vorbeigehen? Die Rolle des Samariters, der uneigennützig hilft? Die Rolle des Wirten, der diese Hilfe weiterführt? Oder die Rolle der Räuber, die Leben gefährden und nehmen. Wo die Nächstenliebe liegt, ist in dieser Situation von Corona leicht zu beantworten.

Klaus Heidegger, Online-Materialen für den Religionsunterricht in Zeiten der Corona-Krise, www.klaus-heidegger.at, klaus.heidegger@aon.at, 23.3.2020