Mit Kamelen zurück in die Steinzeit oder die Autoscham

 

„Flugscham“ ist ein Begriff, der als „Flygskam“ in norwegischen Ländern kreiert wurde. Mit diesem Neulogismus ist gemeint: Man schämt sich für sein klimaschädliches Verhalten.

Wo ich vorübergehend wohne, höre ich den permanenten Verkehr vor dem Haus und schaufle ich mir bei jedem Lüftvorgang die Autoabgase in die Wohnung. Das Land Tirol hat einen Wirtschaftskammerpräsidenten und Landtagsabgeordneten, der sich im Sommer 2021 in einem ORF-Interview für einen weiteren Ausbau der Straßen mit dem Argument einsetzte, man könne ja nicht mit einem Kamel nach Wien reiten. Solche Ansage passt zu einem Bundeskanzler, der eine Woche zuvor den von Umweltministerin Gewessler angepeilten Stopp von Straßenprojekten mit einer Rückkehr in die Steinzeit gleichsetzte.

Von einer Autoscham sind die beiden Herren mit ihren populistischen Sprüchen weit entfernt; so weit wohl, wie jene Hunderttausenden, die jeden Tag wieder gedankenlos in ihr Auto steigen, als sei es das Normalste auf der Welt.

Ich selbst kenn in mir schon seit der Kindheit eine Autoscham. Wo immer es geht, versuche ich daher auf Autofahrten zu verzichten. Erst ab dem dritten Kind hatten wir als Familie ein Auto, weil sich bestimmte Notwendigkeiten – Kinder zu irgendwelchen Trainingsstunden, Musikschule usw. zu bringen – kaum vermeiden ließen. Dennoch blieben im Alltag Autofahrten die Ausnahme. Wir waren im Dorf die ersten mit einem Kinderfahrradanhänger, mit dem es auch im Winter und bei jedem Wetter in die Kinderwerkstatt ging. Später kam ein Tretanhänger dazu, mit dem sich selbst Mountainbikestrecken fahren ließen. Selbst für unsere Familienurlaube hatten wir lange öffentliche Verkehrsmittel benützt. Mit drei Kindern, aufblasbarem Plastikkrokodil und all dem, was für einen Strandurlaub dazu kommt, fuhren wir regelmäßig zu unserem Meeresurlaub. Für meine täglichen Fahrten in die Schule oder zu irgendwelchen Sitzungen, Veranstaltungen etc. benütze ich so gut wie immer das Fahrrad. Trotzdem bin ich hin und wieder dankbar, ein Auto mitbenützen zu können, wenn sich eine Berg- oder Skitour eben anders kaum ausginge. Da aber sitzt in meinem Herzen eben die Autoscham.

Der Klimawandel war in meiner Jugendzeit noch kein Thema. Was mir aber schon vor drei Jahrzehnten einleuchtete, war die einfache physikalische Tatsache, wie verrückt es ist, mit weit mehr als einer Tonne Material ein Menschengewicht von 70 Kilo von A nach B zu bewegen. Ich habe als Jugendlicher die Erdölfelder im Norden Afrikas und im Westen Amerikas gesehen. Nie gehen mir die Erdölpumpen aus dem Kopf. Dieser hohe Ressourcenverbrauch für die Automobilität ist sündhaft, war mir stets bewusst.

Heute steht der menschengemachte Klimawandel im Fokus. Der Sommer 2021 hat die Folgen der Erderhitzung drastisch deutlich gemacht. Auf Dürreperioden folgten Unwetter. Meine geliebten Gletscher schmelzen dahin. Der Welterschöpfungstag wurde bereits Ende Juli erreicht und rückte damit weiter nach vorne. 2021 werden eineinhalb Erden verbraucht. Nach österreichischer Lebensweise sind es sogar 3,5 Erden. Die Treibhausgasemissionen sind in Österreich 2019 um 1,5 Prozent gestiegen. Ein Anstieg der THG-Emissionen auf fast 80 Millionen Tonnen CO-2-Äquivalent ist vor allem auf den Verkehr zurückzuführen

Der Umstieg auf Elektromobilität ist aus ökologischer Sicht kein Allheilmittel. Auch Elektroautos haben einen enormen Verbrauch von „grauer Energie“ und knapper werdender Ressourcen – sowohl im Verbrauch wie vor allem auch in der Erzeugung. Auch Elektroautos brauchen Straßen- und Parkflächen und tragen so weiter zu einer Bodenversiegelung bei. Ja, es braucht für unvermeidliche Autofahrten Elektroautos und heute sollte bereits der Kauf von Neuwagen, die mit Benzin- oder gar Diesel betrieben sind, ein No-Go sein. Dennoch muss auch gesehen werden: Ein umweltfreundliches Auto bleibt ein Oxymoron – ein Widerspruch in sich. Und vor allem: Es gilt heute in Alternativen zu denken – von Radfahren über Öffentliche Verkehrsmittel bis hin zu Car-Sharing-Modellen.

Ich bin dankbar, wenn ich merke, dass ich mit meiner Autoscham nicht alleine bin, dass es eben Seelen- oder Gedankenverwandte gibt, die versuchen, möglichst autobefreit zu leben. Das ist stärkend. Zugleich werde ich nie jemanden wegen des Autofahrens negativ bewerten – und wenn ich wieder in einem Auto sitzen werde, um rechtzeitig zu einem Sonnenaufgang auf den Berg zu kommen, dann eben auch mit Autoscham.

Europaweiter Autofreier Tag, 24.9.2021, Klaus Heidegger