Bergradeln auf Sardinien – Teil 2

Tag 1: Sardinienreise mit Rad, Bus und Fähre

„Wie kann ich verantwortlich und ökologisch-ethisch korrekt verreisen?“, frage ich mich stets, wenn ich ein neues Land entdecken möchte. Mein Nachdenken darüber soll nicht Kritik an jenen sein, die mit Flieger und Auto unterwegs sind. Wo die Grenzen liegen, ist stets Sache des individuellen Gewissens und der Einstellung sowie der Lebensumstände. Mein Zeitbudget lässt es eben zu, mir für eine Anreise mehr Stunden zu gönnen, und meine Leidenschaft für ein möglichst intensives Naturerleben sowie die körperlichen Voraussetzungen legen ohnehin eine sportliche Variante mit Rad nahe. Jedenfalls fühle ich mich dem Maßstab verpflichtet, den ökologischen Fußabdruck klein zu halten, was mit einem Flugzeug gar nicht ginge. Sardinien ist ein Land, das ohne Flugreise und ohne Auto gut erreichbar ist und dann vor Ort mit Rad ideal bereist werden kann. Auch öffentliche Verkehrsmittel würden sich dort anbieten. Die Fahrt zu einem der Fährhäfen in Italien mit Zug wäre so kompliziert bzw. fast nicht möglich, wenn ein Fahrrad mitgenommen werden sollte. So also bietet sich wieder FlixBus an. Mir ist bewusst, dass auch dies mit ökologischen Belastungen verbunden ist.

FlixBus hat zwar mit Elektrobussen ein paar Pilotprojekte realisiert, doch ist dies wohl nicht mehr als ein Tropfen auf die von der Erderhitzung glühenden Steine. Die Ökobilanz sieht bei Fernbusreisen besser als bei Zugreisen aus. Ein schaler Beigeschmack sind wohl die Arbeitsbedingungen. Die Busfahrer arbeiten im Schichtbetrieb. In Österreich liegt der Kollektivlohn steigend bei 2.300, Euro brutto. Die osteuropäischen Fahrer verdienen noch wesentlich weniger und irgendwo las ich einmal, dass bei 180 Stunden, also in vier Wochen, der Stundenlohn von 5,60 bis 9,40 Euro pendelt. Kein Wunder, dass einige der FlixBusfahrer nicht gerade ein Musterbeispiel für Höflichkeit und Freundlichkeit sind. Auch die Busfahrer auf unserer Fahrt kommen aus Osteuropa. Sie haben kein Interesse an Durchsagen. Die Zeiten sind knapp bemessen, Pausen werden keine gemacht. Unser Bus fährt überpünktlich um 4.50 Uhr in Innsbruck ab und soll um 12.30 Uhr in Genua ankommen. Einen kurzen Aufenthalt haben wir in Verona, wo wir umsteigen. Der Rädertransport funktioniert reibungslos. Die Räder werden in der unteren Ladefläche verstaut, was mir ohnehin lieber ist als eine Außenaufhängung.

Der Bus ist voll besetzt. Auf unseren reservierten Plätzen schlafen schon Leute. Wir hocken uns getrennt auf andere Sitzplätze. So wecken wir niemanden auf. Ich setze mir zur Sicherheit die MNS-Maske auf. Mir ist die Landschaft vertraut und selbst mit geschlossenen Augen glaube ich die Strecke hinauf auf den Brenner, hinunter durch das Eisacktal und weiter durch das Etschtal zu erkennen. Der Bus fährt die Route zum Gardasee, dann durch die Poebene und schließlich 45 Minuten lang durch eine hügelige Landschaft, bevor Genua auftaucht mit Häusern, die wie Berge hinter der Küste aufgetürmt sind. Eine Stunde hat der Bus Verspätung. Aber das macht nichts. Erst um 20.30 Uhr wird die Fähre starten und zwei Stunden vorher sollen wir dort am Hafen sein. Das Gefühl, mit dem Rad auf das riesige Fährschiff zu fahren, ist königlich.

Tag 2: Porto Torres, Alghero und eine spektakuläre Landzunge: erste Begegnung mit Sardinien

Sonntagmorgen, 7.00 Uhr. Es ist warm wie im Sommer. Wir landen zunächst bei einem Kaffee im Hafengebiet, bevor unsere Radreise beginnt, zunächst entlang eines Trails in einer Kakteenallee, durch die mediterrane Macchia, dann meist flach auf Landstraßen nach Alghero, dem ersten Etappenort. In der Siestazeit kommen wir dort an, finden auch gleich ein B&B und einen Supermarkt und beschließen, die andere Hälfte des Sonntags für eine landschaftlich schöne Fahrt zum Capo Caccia zu nützen – hin und zurück weitere 50 Kilometer. Zunächst geht es der Strandpromenade entlang, wo Palmen prallvoll mit den orangefarbenen Früchten sind, und ein kilometerlanger Strand mit feinem weißem Sand. Bei Fertilia ist eine steinerne Römerbrücke, von der noch Zweidrittel erhalten snd. Etwas weiter fahren wir an einem Nuraghen-Komplex vorbei – eine der archäologischen Stätten, die Zeugen von der frühen Besiedelung Sardiniens durch die Nuraghen sind. Es geht durch eine eindrucksvolle Landschaft mit einem Wald aus Pinien und blühendem Ginster. Das Capo Caccia ist eine spektakuläre Landzunge und der Panoramablick von einer hohen Klippe über der Steilküste hinaus aufs Meer ist spektakulär. Bei der Rückfahrt testen wir das Meer. Es ist warm genug, um im Meer zu schwimmen.

Tag 3: Alghero und die Küstenfahrt nach Bosa

Alghero ist die Stadt, in der kurz vor seinem Tod ein paar Monate Antoine de Saint-Exupéry – einer meiner Lieblingsdichter – lebte, mit dem ich die Geschichte vom „Kleinen Prinzen“ verbinde. Tatsächlich ging ich gestern mit einem Blick nach oben von der Pizzeria heimwärts, um die Sterne zu sehen. Der Himmel ist hier so eindrucksvoll dunkel und nicht mit Licht verschmutzt. Der historische Kern der Altstadt wird von einer dicken Mauer umschlossen. Darin sind schmale Gassen – oftmals mit Steinstufen. Man spricht hier teilweise noch Katalanisch und Straßenbeschilderungen sind zweisprachig. Es zieht mich in die Kathedrale. Mächtige Säulen sind imposanter Teil der klassizistischen Fassade. Ein prunkvoller silberner Altar ist im Zentrum unter der Kuppel, dahinter eine heldenhafte Statue von Maria, die triumphierend den Drachen unter ihr zerdrückt. Für mich ist all dies kein Andachtsraum, sondern wie ein Bilderbuch von einer bestimmten historischen Entwicklung, in der sich – gerade in der Barockzeit – die katholische Kirche als allherrschende, triumphierende Kirche verstand und wohl auch entsprechend auftrat.

Das Komot-Navigationssystem gibt uns gleich aus der Fahrt von Alghero heraus einen kurzen Single-Trail vor, der zwar unnötig ist, aber so können wir auf den vom Salz ausgewaschenen Felsen gut Abschied nehmen von der Stadt mit Blick hinüber auf die Landzunge, wo wir am Tag zuvor waren. Ohne die vorgegebene Route hätten wir auch nicht den Trail zwischen den baumhohen Kakteen, duftenden Sträuchern, durch einen Olivenhain und dann wieder auf kleinen Sträßchen entdeckt. Irgendwo am Endpunkt einer Straße und vor einem der Trails, der kaum mehr befahrbar war, meinte ein hier lebender Amerikaner auf unsere Frage, ob wir da fahren können: „You can, you look adventourous!“ Die zweite Hälfte der Route fahren wir dann auf der Küstenstraße, die in Reiseführern als schönste Uferstraße Sardiniens angepriesen wird. Das Wetter ist perfekt zum Radeln. Nur wenige Autos sind unterwegs. Kaum Motorräder. Tiefblau-türkisgrün ist das Meer, das an manchen Stellen gut hundert Meter unter uns liegt. Vor Bosa, unserem zweiten geplanten Etappenort auf Sardinien, ist die Landschaft frühlingshaft grün mit weißblühenden Sträuchern. Die buntgefärbten Häuser der Altstadt liegen unterhalb einer mächtigen Burg. Die Gassen mit der schon von Alghero bekannten Bepflasterungsweise – kleine runde Steine zwischen den glattpolierten großen Pflastersteinen, die eine Fahrspur bilden. In einem der alten Häuser ist unser B&B. Es ist noch genügend Zeit, um gemütlich den Tag am Strand von Bosa mit Schwimmen und Sandliegen in Sonnenuntergangsstimmung ausklingen zu lassen. Eine Pizza am Hauptplatz darf aber auch nicht fehlen – und irgendwie gehört auch ein Platten im Rad dazu bei all den spitzen Stacheln und Scherben, über die wir heute doch gefahren sind.

Tag 4: Von Bosa nach Villanova

Auf Trails und einsamen Wegen und durch unberührte Naturlandschaften geht es heute. Die Mountainbikes und unser leichtes Gepäck passen dazu. Das Frühstück im Kaffee am Temo-Fluss – typisch italienisch mit Cappuccino und Croissant – ist wohl nicht die beste Grundlage für unser sportliches Unternehmen. Ohne die Navigation mit Komot und die aufgezeichnete Route hätten wir nie eine solche Route gefunden und auch nicht gewagt. Zunächst geht es dem Temo-Fluss entlang. Es ist kühler als an den beiden letzten Tagen. Irgendwo werden Oliven von einem der vielen Olivenbäume geschüttelt und auf einer Decke aufgefangen. Die Struktur des Tales vor uns ist ersichtlich. Bald ist der Fluss tief unter uns. Alles ist dicht bewachsen. Steineichenwälder, eine Fülle an Sträuchern und Büschen, blühende Blumen und eine üppige Früchtezahl an manchen Bäumen, deren Namen ich gar nicht kenne. Die Route ist nicht offiziell. Immer wieder bedeutet dies, über Zäune zu klettern, die ein Weiterkommen begrenzen würden. In einem Wald riecht es intensiv nach Wildschweinen und wir sehen die frischen Fährten am Weg. Immer wieder ist der Weg zu steil oder zu ausgewaschen, um darauf fahren zu können. Aber das macht nichts. Wir haben Zeit und nehmen sie uns und können so die Schönheit und ökologische Einzigartigkeit dieses Naturreservates besser erleben.

Montrosta heißt die kleine Ortschaft, in der wir mittags ankommen, wo wir uns in einem Alimentari mit Mozzarella, Tomaten, Oliven und Brot versorgen. Der freundliche Ladenbesitzer spricht Deutsch, weil er einig Jahre in Solingen als Gastarbeiter war. Lieber sei er hier, sagte er, und scheint wirklich ganz glücklich zu sein. Bei der Weierfahrt entlang eines Feldweges stellt sich uns ein weiteres Hindernis in den Weg: eine Kuhherde, die nicht von der Straße weichen will und ungewollt erschreckt vor uns die längste Zeit vor uns dahin trampelt. Links und rechts des Weges sind Stacheldrahtzäune und weder wir Biker noch die Kühe können ausweichen. Nachdem dieses eine Hindernis hinter uns ist, kommt bald wieder ein Zaun, über den wir unsere Räder hieven. Es wird spätnachmittags, bis wir so, ganz erfüllt mit Natur und abenteuerlicher Fahrt, in dem Bergstädtchen Villanova ankommen, ebendort ein B& finden und wohl die einzigen Touristen in der Stadt sind. Die Pizzeria ist der Treffpunkt für die wenigen Einheimischen, in der auch wir uns wohlfühlen.

Tag 5: Von Villanova nach Sassari

Cappuccino und Croissant – das, was in Italien und damit auch auf Sardinien – als Frühstück gilt. Die Herbstsonne schafft es gerade, über die Häuser zu kommen. Ein paar ältere Herren – manche mit MNS-Masken – pflegen Gemeinschaft. „VENDETI“ steht auf manchen verfallenden Häusern. Wir folgen der vorgegebenen und aufgezeichnete Route mit Sprachnavigation. Die versteckten Trails ließen sich anders nicht finden. Manchmal enden sie in unpassierbaren Strecken. Die Landschaft ist uns schon etwas vertraut geworden: die mediterrane Macchia, die Steineichenwälder mit den Bäumen, denen die Korkrinde am Stamm entnommen worden ist, die blühenden Blumen, so als wäre Frühling, die bellenden Hirtenhunde und ihre Schafherden, das tiefe Grün – so als würde sich die Natur von den Hitzemonaten des vergangenen Sommers mit aller Kraft erholen. Zwischendrin ist eine Ortschaft, in der wir uns für das Mittagessen eindecken, das wir an einem wunderbaren Platz bei einem kleinen Bach genießen. Den Herbst erkennen wir eigentlich nur an den braunen Blättern bei den Weinbergen, ansonsten ist alles wieder frühlingshaft grün – selbst die Artischockenfelder in einem ganz besonderen Grün.

Sassari mit seinen 125.000 Einwohner:innen wirkt nach all der Einsamkeit der letzten Tage riesengroß. Aber auch das gehört zu Sardinien. Universitätsgebäude, volle Straßen, Geschäfte, breite Straßen und dann wieder enge Gassen in der historischen Altstadt. Nun übernachten wir schon im fünften B&B. Zum Unterschied von Hotels hat jede dieser Unterkünfte einen ganz besonderen Charme und eine persönliche Atmosphäre.

Tag 6: Von Sassari nach Castelsardo

In einer der lärmenden Straßen von Sassari haben wir das zweite B von B&B. So anders ist es hier als gestern beim Frühstück. Gefühlt Tausende Menschen in Tausenden Autos eilen zu ihren Orten. Schülerinnen und Schüler schlürfen zur Schule, Studierende selbstbewusst auf dem Weg zur Uni und etliche, wie wir, die noch davor in einem Café eine morgendliche Stärkung nehmen, die auch in der Begegnung mit einem Menschen liegt.

Wir beginnen die Fahrt mit Sightseeing durch die engen Altstadtgassen von Sassari zum Dom St. Nicolo. Würden wir den Weg auf der Straße nehmen, dort, wo die Autos fahren, wären wir wohl in kurzer Zeit an der Küste bei Castelsardo. Komot gibt aber eine spannende Route vor. 39 Kilometer klingt nicht nach viel, 990 Höhenmeter sagt schon mehr aus, aber wir wissen inzwischen, dass Komot im Profi-Modus extreme Wege vorschlägt und die Zeitangaben völlig unrealistisch sind. Wieder wird die Landschaft außerhalb der Stadt wunderschön und manche Wege und Pfade so grobsteinig oder steil, dass sie nicht mehr befahrbar sind. Irgendwo taucht eine Stadt auf einem Hügel vor uns auf, irgendwo – und das ist oft – bellt uns ein Hirtenhund an, der seine Schafherde bewacht, irgendwo entdecken wir auf einem grasgrünen Feld eine Eselherde und mittendrin auch den für Sardinien bekannten weißen Esel, irgendwo ist ein aufgelassen Bergwerk. Eidechsen huschen über die Wege. Es gibt auf Sardinien nirgends – so wie bei uns – beschilderte Wege. Dafür müssen wir auch heute Schilder mit der Aufschrift „VIETATO L’ACCESSO. PROPRIETA PRIVATA“ mit etwas mulmigem Gefühl ignorieren, weil es keine Ausweichmöglichkeit mehr gibt. Irgendwo sehen wir auch das Meer, aber dann geht es wieder ein anderes Tal hinunter und eine neue Bergstrecke führt hinauf. Irgendwo im Grünen machen wir Pause mit Mozzarella, Brot, Gurken und Tomaten. Ein Traumort zum Picknicken und all dies bei ca 25 Grad Lufttemperatur. Stets sind wir bis auf die paar Dörfer und Querungen von Straßen ganz allein. Schmetterlinge fliegen zum Nektar in den gelben und weißen Blüten. Ein kräftiger schwarzer Käfer rollt eine Kugel den staubig-trockenen Weg hinauf. In manchen Felsformationen lassen sich Tierbilder erkennen. Einige Kilometer vor unserem Etappenort ist der Weg wieder einmal mit Gitter abgesperrt. Wir haben inzwischen schon Routine entwickelt, um das Rad über den Zaun zu heben und wir selbst unten durch.

Dann liegt bildermuchmäßig Castelsardo vor uns. Bunte Häuser, die eng aneinander liegend an einen steilen Felshügel gebaut sind, auf dem eine mächtige Burganlage thront. Das B&B erweist sich wieder als Glück mit individuellem Charme. In der Bucht vor der Stadt lässt sich noch gut schwimmen, während die Sonne untergeht.

Tag 7: Von Castelsardo nach Stintino

Noch im Dunkeln erkunde ich die Altstadt von Castelsardo. Ich lasse mich verlieren in den engen Gassen zwischen den alten gemauerten Häusern, während der Himmel sich färbt in den Morgen und den neuen Tag hinein. Auf einer Mauer warte ich auf den Sonnenaufgang. Es beginnt heute unsere Fahrt entlang der Küste über Porto Torres nach Stintino. Da warten keine sportlichen Herausforderungen auf uns aber so mancher Panoramablick entlang der Nordküste. Besonders schön ist es rund um einen der steinernen Wachtürme an der Küste. Die herbstliche Sonne trägt zur Intensität der Farben bei und schafft deutliche Kontraste: weiß-gelbliche Steine und tiefblaues Meer dahinter, hellblauer Himmel und grünen Wiesen und Wälder. Nach viel Natur der letzten Tage sehen wir nach Porto Torres auch die andere Seite von Sardinien: Industriezonen im Westen von Porto Torres, Anlagen der Petrochemie, Windparks und Solarkraftwerke. Danach geraten wir wieder auf eine Nebenstraße, die gerade umgebaut wird. Und wieder erleben wir sardische Gastfreundschaft. Anstatt uns zurück zu schicken, trägt mir ein Arbeiter das Rad über den Graben und auch jenes von Bianca hätten sie am liebsten mitgetragen. Stintino ist für uns der einzige Ort, wo wir gleich zwei Mal übernachten. Das B&B ist dafür super geeignet.

Tag 8: Buchtenfahrten bei Stintino

Die geplante Fahrt auf die Insel Asinara können wir nicht machen. Das schafft uns aber ohnehin mehr stressfreie Zeit, um die Gegend rund um Sistino zu erkunden. La Pelosa gilt als der zweitschönste Strand von ganz Italien. Jetzt, selbst in der Nebensaison, treffen wir nun erstmals einige Touristen, die zum Wochenende zu diesem Bilderbuchstrand gefahren sind. Man hat von hier einen wundervollen Blick auf die Insel Asinara und den Wachturm der Isola Piana, zu der ich im badewarmen Meer hinübergeschwommen bin. Die meisten Appartementanlagen auf der Halbinsel sind geschlossen. Im Sommer wird hier wohl Massentourismus sein. Auf einem Berg steht ein Wachturm. Wir gehen zunächst zu Fuß hinauf – und dann von der anderen Seite noch einmal mit dem Rad vom Süden her. Mit unserer App finden wir sogar auf dieser Halbinsel einen Weg, der wieder mit einem Gitter abgesperrt ist, das es zu überwinden gilt, und einen Weg, auf dem eigentlich die Durchfahrt verboten wäre. Schließlich finden wir an der Westseite noch die ultimative Traumbucht an einer Steilküste, wo anfänglich überhaupt keine Touristen sind. Tiefblau ist das Meer und mit meiner Schwimmbrille kann ich die Unterwasserwelt bestaunen.

Tag 9: Von Stintino nach Porto Torres

Sonntag. Letztmalig genieße ich allein am Hafen von Stintino die Sonnenaufgangsstimmung. Winterzeit. 6.00 Uhr. Das Meer rauscht. Im Himmeldunkel funkeln die Sterne. Auf der anderen Seite der Bucht von Asinara funkeln die Lichter von Porto Torres. Der Sonnenaufgang ist wieder ein farbenprächtiges Schauspiel. Eine Stunde nur dauert es. Von tiefschwarzer Nacht und funkelnden Sternen, dem tiefen Rot und pastellfarbenen Orange- und Blautönen, bis die goldgelbe Sonne aus dem Meer auftaucht, während das Meer das Farbenspiel widerspiegelt. Das Frühstück in der Bar ist für italienische Verhältnisse sensationell. Wir nehmen uns für die Fahrt nach Porto Torres zunächst viel Zeit und trödeln mit den Rädern der Küste entlang. Irgendwo ist eine Öko-Frau, die mit einer Zange rund um sich die Küste vom Müll befreit. Ich rede mit ihr. Sie ist Engländerin. „If I woudn’t do it, nobody would do it.“ Sie ist mir sympathisch. Wäre ich jetzt allein und würde ich nicht heute zurückfahren, hätte ich ihr wohl am liebsten geholfen. Den zweiten Teil der Strecke halten wir uns im Windschatten eines Rennradfahrers. Nochmals muss ich ja nicht die Industrieanlagen vor Porto Torres genauer sehen. Dafür haben wir ausreichend Zeit, um vor der Abfahrt der Fähre in einer schönen Bucht und bei einem Lokal, wo wir noch einfach Abendessen, die Zeit gut zu nützen.

Tag 10: Genua

Hohe Häuser, die Gässchen bilden, ganz dunkel sind sie, weil kaum Sonnenlicht durchkommt, mit winzigen Einraumgeschäften, zu eng für die Touristenmassen, die sich an diesem Zwickeltag in die Stadt ergießen, manche von ihnen in Halloween-Kostümierung. Prächtige Paläste in weiten Straßen mit noblen Geschäften und ein Blick ins Innere der Innenhöfe zeigt, dass darin ein kleines Haus passen würde. Manche der Straßen und Gässchen laufen auf kleine und große Plätze zu, auf dem größten unter ihnen, wo imposante Gebäude rundherum sind und in der Mitte ein mächtiger Brunnen, dort warten wir auf die Abfahrt unseres Busses. Im Hafengelände schaukeln sündteure Luxusyachten und gegenüber hockt ein gestrandeter, heruntergekommener, verwahrloster Mann, der selbst in großem Abstand noch nach Urin riecht. Manchmal ertrage ich solche extremen Gegensätze kaum und ich spüre die Tränen und die Wut. Das Kreuzfahrtschiff konkurriert an Höhe und Stockwerken mit den Hochhäusern dahinter und kann leicht mithalten. Tausende der Kreuzfahrtmenschen werden sich dann wieder durch die engen Gassen der Altstadt quetschen. Gibt es jemanden unter ihnen, der oder die an die enormen ökologischen Belastungen für Meer und Luft denkt? Mit unseren Bikes fahren wir zwischen den Menschen Slalom. Die Zeit zwischen der Ankunft des Fährschiffes am frühen Morgen und der Abfahrt des Busses am Nachmittag schenkt Zeit, sich im Trubel der Stadt zu verlieren, wobei sich meine Seele zurücksehnt nach dem Duft von Meer und Macchia und Wildschweinen. Auf den Brückenpfeilern der Stadtautobahn am Hafen sind Graffiti-Kunstwerke, die auch mein politisches Sehnen und meine Verzweiflung an vielen Zuständen dieser Welt widerspiegeln. Das Wasser mit Müll durchsetzt steht einer wunderschönen Frau bis zum Hals; ein Junge streckt sich an den oberen Rand des Brückenpfeilers, um dort einen Sonnensmiley zu zeichnen. Das touristische Interesse gilt einem prunkvollen Gebäude im Renaissancestil. Die Fassadenmalerei zeigt Georg, der einen Drachen tötet. So anders ist die Straßenkunst gegenüber. Eine schwarze Hand streckt sich von dem Brückenrand nach unten, um sich mit der weißen Hand von unten zu vereinen. Für mich ist das religiöse Kunst! Nicht im drachentötenden Georg ist Göttliches zu finden, sondern in Solidarität. Passend zum ganzen Ambiente, zum Meer im Hintergrund, zu den riesengroßen Fährschiffen und den Luxusjachten und den Schwarzen, die wohl immer vergeblich den Touristen ein Armband oder eine Koralle verkaufen wollen, zeigt ein anderes Streetartmotiv Flüchtlinge, die einen Stacheldrahtzaun überwinden. STOP WAR – NOT PEOPLE – ABBATIAMO LE FRONTIERE lautet die revolutionär-utopische Botschaft dazu.

Epilog

wonach ich suche:
ich finde es nicht
in den schönsten Stränden,
die mich trösten im Suchen

was ich ersehne:
ich finde es nicht
im Zauber unberührter Landschaften,
die mich stärken im Suchen

was ich erhoffe,
ich finde es nicht
im Rauschen des Meeres,
das mich Grenzenlosigkeit lehrt

was ich erträume,
ich finde es manchmal
in achtsamen Begegnungen,
die nähren die Träume

klaus …, Sardinien 2022

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