Brenta-Tag 1: Unterwegssein in einem einzigartigen Gebirge: eine Durchquerung der Brentagruppe

Klimabewusste Anfahrt

Montag, 31. Juli 2023. Weil ich Berge und vor allem die noch verbliebenen Gletscher schätze, weil ich möchte, dass Menschen vor den drohenden und bereits stattfindenden Umweltkatastrophen geschützt werden, weil ich betroffen bin von den schon stattfindenden Unwetterverhältnissen in so vielen Teilen der Welt, in denen Hab und Gut von Hunderttausenden vernichtet wird, weil die Biodiversität allerorten verschwindet, weil meine Unterstützung der Scientists for Future und der Letzten Generation im eigenen Verhalten sich widerspiegeln sollte, weil eine Anreise mit Öffentlichen Verkehrsmitteln zu den Ausgangspunkten von Bergtouren meist leicht möglich ist und wesentlich entspannender als mit Auto ist, weil eine Kaskade an Kipppunkten bald erreicht sein wird, wie die letzten Wochen im wärmsten Juli der Menschheitsgeschichte und angesichts der vielen Waldbrände zeigen, wählten auch wir als An- und Abreisemöglichkeit die Öffi-Variante: Zug bis Trient und von dort mit Bus nach Madonna di Campiglio. Das ist unkompliziert. Am Fahrkartenschalter in Innsbruck lässt sich ein Euregioticket ausdrucken, mit dem zwei Personen um 39 Euro einen ganzen Tag lang alle öffentlichen Verkehrsmittel im Euregiogebiet Trentino-Südtirol-Tirol nützen können. Leider ist dies noch viel zu wenig bekannt und wird öffentlich kaum propagiert. Manche Bergsteigende studieren auch lieber die Bergkarten als Anfahrtsmöglichkeiten mit öffentlichen Verkehrsmitteln.

Die Eisack führt braunes Hochwasser. Im Pustertal soll es heftige Unwetter gegeben haben. Blicke auf die Autobahn, die durch das Etschtal führt, offenbaren einen zähen Blechwurm in beide Fahrtrichtungen. Bahnreisende gibt es wenig. Die Autostazione in Trient ist in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof. Von meinen Rennradfahrten kenne ich die eindrucksvolle Schluchtenwelt, in die der Bus sich durch Tunnels und enge Kurven hinaufwindet. Zwei Stunden dauert die Fahrt von Trient bis Campiglio auf 1.550 Meter. Das deutsche Exonym St. Maria im Pein für Campiglio – wie die Einheimischen es kurz nennen – gibt etwas mehr die Geschichte des Ortes wieder, mit dem heute einer der bekanntesten Wintersportorte Italiens assoziiert wird. Es war der Habsburgeradel und das reiche Bürgerturm, die Campiglio zu einem mondänen Ort werden ließen.  Ein Hotel reiht sich an das andere – eine Stimmung wie in Ischgl. Auf beiden Seiten gehen Liftanlagen hinauf. Wir nehmen die Grostè-Kabinenbahn zu unserem Ausgangspunkt. So schweben wir über die planierten Böden hinauf. Links und rechts davon sind die Beschneiungsanlagen. Auf den künstlich wirkenden grünen Pisten wurde teils Heu gestreut. Dass Skifahren auf Kunstschnee nicht umweltfreundlich ist, wird jetzt im Sommer mit aller Deutlichkeit sichtbar. Der technische Aufwand, dass Menschen hier im Winter auf weißen Bändern hinunterfahren können, ist enorm. Das Megaskiresort Madonna di Campiglio wirkt für mich wie eine anachronistische Zeiterscheinung aus den Tagen, als Klimawandel kein Thema war.

Von der Grostè Bergstation zum Rifguio Tuckett über Benini- und Dellagiacoma Klettersteig

Gleich unweit der Bergstation Paso del Grostè (2444 m) beginnt die Wegkette des „Sentiereo delle Bochette“, die über eine Ansammlung von Klettersteigen über den zentralen Teil der Brentagruppe führt. Wolken und Nebelfetzen ziehen um die beeindruckenden Felsformationen. Laut Wetterberichten soll es heute aber weder Regen noch Gewitter geben. Die Tour ist mit rund 600 Höhenmeter Anstieg und 800 Höhenmeter Abstieg verteilt auf 6 Kilometer nicht lang und wir können bereits mittags losgehen. Diese Ferrata soll auch der einfachste Teil am Bochette-Weg sein. Die Angaben bewegen sich zwischen A und B – was nicht angeführt wird, ist allerdings die Tatsache, dass es immer wieder auch leichtes Klettergelände und viele ungesicherte Passagen an ausgesetzten Felsbändern gibt. Das gemeinsame Unterwegssein hilft mir dann, wenn ich mich unsicher fühle und meinen Tritten manchmal zu wenig traue. Dann schau ich halt auf den luftigen Felsbändern weniger in die Tiefen hinunter – und die sind gewaltig – und konzentriere ich mich rein auf den jeweils nächsten Griff und Tritt. Jedenfalls komme ich aus dem Staunen über die so besondere Gebirgswelt nicht hinaus. Der höchste Punkt unserer heutigen Tour ist knapp über 2900 m. Die Wolken- und Nebelstimmung ist besonders – zwischendrin kommt immer wieder tiefblauer Himmel durch. Laut Beschreibungen soll dieser Steig stark frequentiert sein. Heute ist es nicht so. Nur ein paar Mal überholen wir Gruppen, die etwas langsamer vor uns unterwegs sind. Gipfelambitionen haben wir keine – bin eigentlich nur froh darüber, keine Extraklettereien hinzuzufügen. Bei einer Abzweigung wählen wir dann den Klettersteig Dellagiacoma hinunter zu den beiden Tuckett-Schutzhütten. Sie – Tucket und Sellahütte – stehen nebeneinander auf einem breiten felsigen Joch, das umrahmt ist von Steilwänden. Zwei Hütten nebeneinander? Vor mehr als hundert Jahren, als die Hütten gebaut wurden, war der nationalistische Streit zwischen den italienischen Trentinern und habsburgerisch-deutsch-österreichischen Machtinteressen manifest. So bauten sich die Trentiner Alpinisten die Sellahütte, während sich die deutsch-österreichischen Vereine gleich daneben die Tucketthütte erbauen ließen. In diesen nationalistischen Streit waren auch die Gipfelersteigungen. Wessen Fahne sollte als erstes auf einem Gipfel wehen? Die Brentagruppe verdient es jedenfalls, als UNESCO Welterbe anerkannt worden zu sein. Von einem  einstmals wohl mächtigen Gletscher ist nur mehr weit hinten ein kläglicher Rest eines Firnfeldes übrig geblieben. Bald werden fast alle Gletscher im Brentagebirge verschwunden sein. Klimawandel ist sichtbar. Die verbliebenen Gletscherreste sind teils mit Geröll bedeckt und aufgrund von Blankeis gefährlich geworden. Manche Zustiege zu den Klettersteigen sollen daher nicht mehr einfach sein.

Ich spüre die Dankbarkeit, gemeinsam dieses Panorama erleben zu können, habe viel Zeit, die Wände zu bestaunen, im Südosten ragen die Felswände der Cima Brenta hinauf und gleich hinter den beiden Hütten gibt der typische Brenta-Nebel immer wieder den Blick auf zwei Kletterer frei, die eine für mich unerreichbare Dimension des Kletterns im rötlich-schwarzen Brentafels verkörpern. Freundlich werden wir in der Hütte bewirtet und finden Rast in einem Sechserzimmer. Eine erste Nacht im Herzen der Brenta.

Kommentare

  1. Lieber Klaus, deine Excursionsbeschreibungen sind ein wunderbarer literarischer, géographiescher und emotionaler Beitrag Deiner Ausflûge. Meiner bescheidenden Meinung nach solltest Du sie zusammen fassen zu einem Ausflugsbuch.
    Alles Gute und liebe Grûsse von uns

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