Rise like a lion

Juli 2025. Fast ganz Gaza ist zerstört. Die Infrastruktur wurde dem Boden gleichgemacht. Die Felder wurden zerstört. Fast alle der zwei Millionen Menschen aus Gaza leben unter elenden Bedingungen in Flüchtlingslagern, erleiden Hunger aufgrund der vom Staat Israel seit Wochen abgesperrten Wege. Seit März 2025 durften kein Mehl und andere Nahrungsmittel, keine Medikamente und dringend nötige Babynahrung in den zerstörten Gazastreifen geliefert werden. Aufgrund des Drucks der internationalen Öffentlichkeit hat der Staat Israel mit Unterstützung der USA unzureichende und gefährliche Hilfslieferungen zugelassen und zugleich das bewährte System der vor Ort seit Jahren operierenden UN-Organisationen wie UNRWA torpediert. Die vom Staat Israel in Zusammenarbeit mit den USA eingesetzte sogenannte Hilfsorganisation GHF (Gaza Humanitarian Foundation) hat lediglich an vier Punkten im Süden des Gaza Hilfslieferungszentren errichtet. Offensichtlich wurden keine im Norden errichtet, weil dieses Gebiet als erstes ethnisch gesäubert werden soll. Systematisch wird aber auch an diesen Hilfszentren die geflüchtete Bevölkerung terrorisiert. Die GHF, die von einem evangelikalen Fernsehprediger und Trump-Freund geleitet wird, beauftragte US-Söldner, die mit ihren Scharfschussgewehren gezielt Palästinenser abknallen, die um Hilfe anstehen. Das ist keine Propaganda islamistischer Organisationen, sondern geht aus einem Bericht der BBC hervor. Demnach verdient allein einer dieser rund 3000 Söldner bis zu 1000 US-Dollar am Tag. Gleichzeitig geht im Westjordanland der Siedlungsbau weiter und werden palästinensische Dörfer von ultraorthodoxen Siedlerorganisationen angegriffen. Welche größere Legitimation nehmen sich die Kriegsherren zu Hilfe, um ihr Tun zu rechtfertigen?
Präsident Netanjahu hat die israelische Operation, mit der am 13. Juni iranische Atomanlagen angegriffen und gezielt Wissenschaftler und Politiker getötet wurden, „Rise like a lion …” genannt. Wie so oft argumentierte der israelische Staatschef dabei mit dem Verweis „The bible says …“. Die Benennung der Operation „Rise like a lion“ nimmt Bezug auf eine Stelle aus dem Buch Numeri 23,24. Weil immer nur der erste Teil dieses Bibelverses genannt wird, deckt der zweite Teil den genozidalen Charakter auf. Es heißt: „Siehe, ein Volk wie eine Löwin, die aufsteht, / wie ein Löwe, der sich erhebt. /Er legt sich nicht hin, /bevor er die Beute gefressen / und das Blut der Erschlagenen getrunken hat.“
Völkermordpläne in der Bibel
Die biblischen Schriften sind mir wichtig. In ihnen sind einerseits Aussagen, die brandgefährlich sind, wenn sie aus dem Zusammenhang gerissen oder verkürzt werden und dann noch als Legitimation für eine eigene gewalttrunkene Kriegspolitik missbraucht werden. Als Netanjahu den israelischen Angriff auf den Iran am 13. Juni 2025 „Rise like a lion“ nannte, wusste ich gleich: da gibt es im kriegerischen Narrativ doch noch den zweiten Halbsatz, der vom „Fressen der Beute“ und vom „Bad im Blut der Erschlagenen“ handelt. Im Ersten Testament wird 23 mal davon gesprochen, dass Israel seine Feinde komplett zerstören soll. Nichts soll geschont werden, weder Kinder noch Frauen und auch nicht das ganze Vieh. Die israelischen Feinde werden mit der Gestalt des Amalek in allen Jahrhunderten der Kriegszeit in Verbindung gebracht. Amalek soll, so der mythologische Faden, Enkel des Esau gewesen sein. Das Amalekitergesetz aus dem Buch Exodus (17,14) und dem Buch Deuteronomium (25,17-19) gibt den göttlichen Befehl, das Volk der Amalekiter komplett zu vernichten. Auch König David führte gnadenlos einen Genozid am Volk der Amalekiter durch.
In diesem Kontext taucht der Begriff „Bann“ mehrmals (hebräisch „herem“) auf. In Numeri 21 wird der Bann gegenüber dem König Arat und seinem Volk ausgesprochen. Auch die Zerstörung von Jericho steht unter dem Aspekt des Bannes, der gegenüber der Stadt und der Bevölkerung vollzogen wird.
Die Gleichsetzung der Palästinenser mit Amalek
Viele Jahrhunderte später wird wieder das Amalek-Narrativ für ein genozidales Vorgehen gerechtfertigt. In seiner Rede am 28. Oktober 2023 bezeichnete Israels Ministerpräsident die Hamas als eine Wiederholung der biblischen Amalekiter. Netanjahu zitierte aus dem Buch Deuteronomium 25,17: „Du sollst daran denken, was Amalek dir angetan hat.“, wobei er die nachfolgenden Passagen, die zur Ausrottung der Amalekiter aufrufen (Vers 19, „Du sollst das Andenken an Amalek unter dem Himmel auslöschen. Vergiss nicht!“) ausließ. Die Gleichsetzung der Hamas mit Amalek kommt den rechtsradikalen, fundamentalistischen jüdischen Organisationen entgegen, die schon seit den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts Palästinenser mit Amalek gleichsetzen und damit Vertreibung bis hin zum Völkermord legitimieren. Weil Soldaten der IDF (Israelian Defence Forces) und israelische Politiker und Medien Palästinenser im aktuellen Krieg mit den Amalekitern gleichsetzten, brachte der Staat Südafrika vor den Vereinten Nationen die Klage auf Genozid ein und sprach von „Völkermordabsichten gegen das palästinensische Volk“.
Netanjahu und mit ihm die rechtsradikalen israelischen Politiker und Rabbis legitimieren das genozidale Tun am palästinensischen Volk mit „The Bible says …“. So beispielsweise begann Netanjahu seine Rede vor den Vereinten Nationen mit einem Verweis auf das Buch Kohelet „The Bible says – there is a time of war – and now is a time of war“. Die ganzen Kriegsverbrechen, das Verhungernlassen von Kindern und Frauen, das systematische Zerstören von Wohnhäusern, die Bomben auf eindeutig nicht-militärische Ziele, die systematische Vertreibung … all das wird religiös begründet. Man könnte, wie es viele auch tun, die Bibel daher am besten weglegen oder – wie es Richard Dawkins populistisch höchst erfolgreich in seinem Bestseller „der Gotteswahn“ schrieb, als das „gefährlichste Buch der Menschheit“ bezeichnen – oder aber man liest die Bibel mit einem kritischen Geist, berücksichtigt ihren historischen Kontext, beachtet die literaturwissenschaftlichen Grundregeln der Form- und Literarkritik und interpretiert sie auch aus der Perspektive des Neuen Testament. Jegliche fundamentalistische Interpretation der biblischen Schriften verrät ihren Geist und wird ihnen nicht gerecht.
Gott des Völkermords?
Ich stelle noch einmal die Frage: Befiehlt der „Gott des Alten Testaments“ den Völkermord. Christan Hofreider hat zu dieser Frage seine Doktorarbeit geschrieben und ein Buch veröffentlicht. Seine erste Antwort lautet, dass die ältesten Schriften der Bibel in einer so ganz anderen Kultur und Welt geschrieben worden sind, als die unsere. Das damalige Denken ist uns fremd. Altorientalisches Denken ist davon geprägt, dass Gott in Kriege eingreift. Der völkerrechtliche Begriff „Genozid“, wie er nach dem Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der Shoah von den Vereinten Nationen definiert worden ist, kommt als solcher in der Bibel nicht vor. Allerdings, so Hofreiter, entspricht das, was beispielsweise im Buch Deuteronomium genannt wird, durchaus der völkerrechtlichen Genozid-Definition der Vereinten Nationen. Die Lektüre der Bibel legt eine kognitive Dissonanz offen. Zum einen ist Genozid ein „Gräuel“, zum anderen soll Gott ebendies anordnen. Ausgehend von dem Schöpfungsbericht gilt die absolute Würde des Menschen – unabhängig von jeder Ethnie, von jedem Geschlecht. Daher kann Gott gar nicht einen Krieg anordnen. Die Logik sagt uns, dass ein absolut gutes Wesen, das Gott ist, gar keine bösen Taten anordnen kann. Ein historisch-kritischer Blick hilft weiter: Im zweiten Buch Mose werden beispielsweise die Kanaaniter „vertrieben“, im fünften Buch Mose aber „ausgelöscht“, also im Sinne eines Genozids. Was also gilt? Das Buch Josua wiederum ist ein altorientalische Eroberungsgeschichte. Wo von „Vernichtung“ die Rede ist, kann dies als Hyperbel – als Übertreibung – interpretiert werden.
Die Frage von „Gewalt und Bibel“ hat mich in meinem Theologiestudium sehr beschäftigt. Es war u.a. der zentrale Ansatz von einem meiner Lehrer, Raymund Schwager. Sein Buch „Brauchen wir einen Sündenbock“ ist für mich stets ein Schlüssel geblieben, die Gewaltstellen im Ersten Testament zu interpretieren. Die Bibel legitimiert nicht Gewalt, sondern deckt ihre Strukturen auf – vor allem mit Blick auf ihre mimetischen Ursachen und Dynamiken. Nicht Gott ist gewalttätig, sondern die menschlichen Gewaltphantasien werden in Gott hineinprojiziert. Es gibt so etwas wie eine fortschreitende Offenbarung, die zu Jesus Christus hinführt, der in sich dann die Logik der Gewaltfreiheit verkörpert, in dem er selbst zum Sündenbock wird und damit die Gewalt in ihrem tiefsten überwindet. Daher ist es durchaus legitim, die Gewaltstellen des Ersten Testaments im Licht der jesuanischen Befreiungspraxis zu interpretieren.
Gott als „Kriegsherr“
Die Kriegsrhetorik in der Hebräischen Bibel kann eindeutig interpretiert werden. Wenn Gott als „Kriegsmann“ (Ex 15,3) bezeichnet wird, dann geht es darum, dass er nicht den Krieg will, sondern für Gerechtigkeit eintreten will. Im Ersten Buch der Könige (20,31) werden die Könige des Hauses Israels als „gnädige Könige“ bezeichnet. In den Regeln für den Krieg, wie sie im 5. Buch Mose genannt werden, gibt es ausdrücklich nicht die Politik der „verbrannten Erde“, wie sie das Kriegskabinett Netanjahus heute in Gaza vollzieht. Im Gegenteil: Dort heißt es, dass das Land geschont werden sollte. Die Bibelforschung und Bibeltheologie zeigen uns die Absicht im Ersten Testament, dass Gewalt eingegrenzt werden soll und nicht blindwütig Rache und Vergeltung gegenüber den Feinden praktiziert werden darf. In diesem Sinn geht es bei der Talionsregel – Auge für Auge, Zahn für Zahn – darum, dass Gerechtigkeit und nicht Vergeltung das Grundprinzip sind. Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit sollen herrschen. Die Gottkraft des Alten Testaments ist auch die Gottkraft des Neuen Testaments mit ihren Wesenszügen der Barmherzigkeit und der Versöhnung. Die christlichen Kirchen haben daher, entgegen dem Ansinnen von Marcion[1], sich eindeutig darauf festgelegt, die Schriften des Alten Testaments nicht von jenen des Neuen Testaments zu trennen.
Ride on a donkey
Ich möchte nicht das gefährlich antijüdische Argumentationsmuster aufgreifen, das mir so oft begegnet: Die gewalttätigen Texte seien eben Sache des Alten Testaments, während Botschaft und Leben Jesu im Neuen Testament eine gewaltfreie Strategie nahelegten. Jesus hat als Jude gelebt und gelehrt. Die Schriften der Torah und der Propheten, die Psalmen und Weisheitsschriften – all das war das tägliche geistige Brot für Jesus. Das messianische Reich, für das sich die Jesusbewegung engagierte, war jenes, in dem Kriege aufhören würden (Psalm 46,9; Jesaja 2,4; Micha 4,3), wo Waffen in Friedensinstrumente umgeschmiedet werden, wo der Wolf beim Lamm lagern wird und der Löwe Heu fressen wird wie eine Kuh … (Jesajah 11,6-9). Es gibt neben den Völkermordrufen die ganz anderen Geschichten in der Hebräischen Bibel wie jene des Großvaters von Amalek. Esau hat sich liebevoll mit seinem Bruder Jakob versöhnt, obwohl er von diesem zutiefst betrogen worden war. Jesus verwendet bewusst die gewaltfreie symbolische Tradition Israels, wenn er das messianische Befreiungswerk mit einem Esel verknüpft. Im Buch Sacharja (9,9) reitet der Messias auf einem Esel, dem Jungen einer Eselin, in die Stadt ein – genau so, wie es laut Evangelien Jesus bei seinem triumphalen Einzug in Jerusalem tat. Jesus und seine Bewegung hätten ihre Operation wohl „ride like a donkey“ genannt.
[1] Marcion lebte im 2. Jahrhundert. Den Gott der Juden stellte er dem Gott der Christen entgegen. Ein solches Denken hat durchaus antijüdischen Charakter. Das Denken von Marcion wurde von den Kirchen abgelehnt. Neo-marcianisches Denken finden wir aber an verschiedenster Stelle. U.a. wird ein solches Denken auch bei Bultmann festgehalten.