Paradoxe Intervention vor dem Pessachfest: Das Evangelium zum Palmsonntag historisch-kritisch gedeutet

Wer hat gejubelt?

Ich denke an Predigten und Schriftauslegungen zum Evangelium vom triumphalen Einzug Jesu in Jerusalem. Sie sind oft geprägt vom Narrativ, dass das Volk zuerst „Hosianna“ rief und Jesus als Friedenskönig freudig begrüßte, um dann später zu rufen „ans Kreuz mit ihm“. Wendehälse – so seien sie gewesen – „die Juden“. Stimmt nicht, sagt uns die Forschung: Jene, die Jesus als Befreier bejubelten und ihn in der messianischen Tradition sahen, waren Menschen aus den Provinzen, vor allem auch aus Galiläa, die anlässlich des Pessachfestes nach Jerusalem gekommen waren. Beim Einzugsjubel war die jüdische Lokalaristokratie, die als Kollaborateure der römischen Besatzungsherrschaft in der Hauptstadt wohnten, nicht dabei. Auch die Bewohnerinnen und Bewohner Jerusalems, die abhängig waren vom ökonomischen Ausbeutungssystem, das sich rund um den Tempel gebildet hatte, den Jesus im Kontext des Evangeliums bei der so genannten „Tempelreinigung“ mit dem prophetischen Begriff „Räuberhöhle“ bezeichnet hatte, dürften keine Palmzweige gewedelt haben. Sie konnten vielmehr, so die Logik in der Passionsgeschichte, benützt werden und sich gut gebrauchen lassen, um dann „ans Kreuz mit ihm“ zu rufen. Die jesuanische Bewegung hingegen störte die herrschende ökonomische Ordnung und das politische Ausbeutungssystem. „Hosianna!“ riefen all jene, die sich – ganz in der Tradition des Pessachfestes – nach Befreiung von Unterdrückung und Besatzung sehnten und in denen die messianische Hoffnung lebte. Ihr Hosianna haben sie auch am Karfreitag sicher nicht aufgegeben, als Jesus verurteilt und grausam hingerichtet worden ist. Daher noch einmal: Die „Hosianna“-Rufer und die „Ans-Kreuz-mit-ihm“-Rufer waren konträre Gruppen zur Zeit Jesu. Wenn dies nicht beachtet wird, dann könnten allzu schnell antijudaistische Denkmuster und Stereotype weiterwirken, die den Kellernazis unserer Zeit gefallen würden.

Was wurde gerufen? Der Hosianna-Ruf

„Bewahre uns vor dem Jubel!“, hörte ich einmal einen Priester predigen, ganz in der Logik des vorher genannten falschen Narrativs. Das Gegenteil will uns das Evangelium am Anfang der Passionsgeschichte sagen: Wer unterdrückt wird, wer die Unfreiheiten spürt, wer sich nach messianischer Befreiung sehnt, soll laut rufen: Hosianna, das heißt „Herr hilf“. Es ist der Hilferuf, den ich bei Aktionen wie „Extinction Rebellion“ höre. Angesichts der multiplen Krisen in unseren Welt kann nicht laut genug „Hosianna“ gerufen werden. Hilf, Herr! Es ist weiters heute auch der Hilferuf angesichts der vielen Kriege auf der Welt! Hilf, Herr!

Der störrische Esel und der Gewaltverzicht

Das Palmsonntags-Evangelium liest sich wie ein Musterbeispiel einer Aktionsform aus dem breiten Feld des gewaltfreien Widerstands bzw. des zivilen Ungehorsams. Man könnte es auch als paradoxe Intervention bezeichnen. Paradox, weil zum einen bewusst ein königlicher Anspruch wahrgenommen wird, zugleich aber dieses König-Narrativ konterkariert wird mit dem Reiten auf dem Fohlen einer Eselin. Ein König, so war doch die gängige Meinung, müsse mit Gewalt kommen, aber nicht auf dem Reittier der armen und verarmten Bevölkerungsmehrheit. Das ist wohl etwas vergleichbar mit Papst Franziskus, der zu Beginn seines Pontifikats vor 12 Jahren einen geschenkten Fiat 500 einem monströsen Dienstfahrzeug der Luxusklasse vorzog. Die Einzugsgeschichte ist im Kontext der Evangelien nur zu verstehen, wenn sie mit der Aktion der Tempelreinigung in Beziehung gesehen wird. Die Art und Weise, wie Jesus kritisiert, dass der Tempel zur „Räuberhöhle“ geworden ist und seine eigentliche Aufgabe längst verraten hat, ist das Vorzeichen, um den Einzug zu begreifen. Die Pilgerinnen und Pilger in Jerusalem wussten schon vor der Eselaktion, was die messianische Bewegung im Sinn hatte. Sie wussten es vor allem auch, weil sie in den Schriften der Hebräischen Bibel beheimatet waren. Sie kannten die Bibelstelle aus dem Buch des Propheten Sacharja, der einen Friedenskönig verheißen hatte, der auf dem Fohlen einer Eselin ins Zentrum der Macht einziehen wird.

Extinction Rebellion im Spiegel des Palmsonntags

In mehrfacher Hinsicht erinnert mich der bejubelte Einzug Jesu in Jersualem an die Aktionen der radikalen Klimaschutzbewegung „Extinction Rebellion“. Sie geschehen aus einer radikalen Notlage heraus – für Jesus war es die Verelendung der Bevölkerung verbunden mit den Gewaltspiralen, für Extinction Rebellion sind es die Kipppunkte im Prozess der Erderhitzung. Ihre provokanten Aktionen geschehen absolut gewaltfrei. Sie geschehen im öffentlichen Raum: Die Jesusbewegung wählte bewusst das Zentrum der damaligen jüdischen Macht, den Tempel und die Stadt Jerusalem, für Extinction Rebellion sind es die Räume, in denen die Zerstörung des Planeten manifest wird: Die Anlagen der Ölindustrie, die Konzernetagen der Ölmultis oder der Firmen, die krude Geschäfte mit Seltenen Erden machen. Aktionen geschehen zu wichtigen Zeiten. Jesus wählte die Woche vor dem Pessachfest, die Aktionen von Extinction Rebellion beginnen oft zum Start von Konferenzen wichtiger internationaler Wirtschafts- oder Verteidigungsbündnisse. Die Aktivistinnen und Aktivisten von Extinction Rebellion nehmen Nachteile und Unbilligkeiten auf sich. Zugleich sind ihre Aktionen bestens vorbereitet. Auch die Palmsonntagsaktion war, so können wir allen vier Evangelien entnehmen, minutiös vorbereitet. Jesus und seine Freundinnen und Freunde wussten genau, wo dieses Eselsfohlen zu finden war, was zugleich aber bis in den innersten Kreis noch ein Geheimnis blieb, um dann wie bei einem Überraschungscoup – als solches mussten es wohl die siegessichere Herrscherclique empfinden – die Aktionsform zu setzen. Vieles deutet daraufhin, dass die Pilgerinnen und Pilger in der Stadt schon durch Mundpropaganda vorinformiert gewesen sind. Was dann geschah, liest sich wie ein Drehbuch zu einem gewaltfreien Umsturz.

Klaus Heidegger, Palmsonntag 2025

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