Von „kotgefleckten Engeln“ im Advent

wegmeditierend

Auf meinem vorübergehenden Weg zur und von der Schule, entlang der lärmgetränkten Hallerstraße und dem im Winter tiefgrünen Inn, liegt unweit von zwei Brücken der fast unscheinbare Traklpark. Trakls traurige Gedichte begleiten mich und manchmal denke ich gedankenverloren an einen seiner Verse, in denen sich Lebenserfahrungen seelentief verdichten. Meine wunde Seele hört ihn pathetisch schreiben vom Glück „von Liebenden, die sanft weniger leiden“, und vom Gefühl der „Verlorenheit im Ewigen“.

von „kotgefleckten Engeln“

Verbunden fühl ich mich dann selbst in meinem Sein mit jenem unglücklichen Dichter, für den die Lyrik wichtig war, um irgendwie mit dem Leben noch zurecht zu kommen. Vor allem die religiösen Metaphern von Trakl sprechen mich in der Tiefe an. Dazu zählen die Engel, die in Trakls lyrischen Texten öfters vorkommen. Es sind aber nicht die kitschigen Engel, die wir zuhauf besonders in weihnachtlichen Zeiten finden, sondern es heißt dann: „Aus grauen Zimmern treten Engel mit kotgefleckten Flügeln. Würmer tropfen von ihren vergilbten Lidern.“ Diese expressionistische Ausdrucksweise und apokalyptische Bilderwelt sind zunächst verstörend, auf den zweiten Blick aber zeigen sie die Widersprüchlichkeit auf, die unsere Existenz in der Welt ausmachen. Sie haben auch zu tun mit den apokalyptischen Bildern im Heute: der Erhitzung der Erde, dem Elend in den Flüchtlingsquartieren, dem Hunger in Ländern des globalen Südens, dem großen Artensterben und vor allem den pandemischen Zuständen. Da haben die Engel tatsächlich „kotgefleckte Flügel“. Es wird nichts mehr beschönigt.

Freilich ist unsere Welt heute anders als jene, in der Trakl lebte und litt. Sie ist nicht jene der Vor- und Kriegszeit des Ersten Weltkrieges, deren todbringende Fratze Trakl ins Gesicht schauen musste. Doch auch heute leben wir in Krisenzeiten, die Angst machen können. Es gibt das Erschrecken vor den Elendsquartieren dieser Welt, das sich im künstlichen Glanz unserer Konsumwelt nicht verstecken lässt. Das Massenelend der Arbeiterschaft, mit dem ein Trakl zur Jahrhundertwende in Wien im Gefolge der Industrialisierung konfrontiert war und das so punktgenau in seinen lyrischen Bildern beschrieben wird, ist 100 Jahre später in den Megacitys im globalen Süden zu finden.

gottverlassen

Mit Blick auf Trakl – wobei ich mich nie mit ihm nur annähernd vergleich möchte – fühle ich mich legitimiert, selbst auch dem literarischen Pathos Raum zu geben, ohne mich dafür schämen zu müssen. Wenn manche meinen, die emotionsgeladene Sprache des literarischen Expressionismus sei uns gegenwärtigen Menschen heute fremd geworden, so trifft dies keinesfalls auf mich zu. Wer klagt, trägt immer zugleich in sich die Hoffnung, die klagen lässt, weil Hoffnung noch ohne Erfüllung ist. Inmitten von Verzweiflung stirbt die Romantik nicht.

Wo dem Leiden in die Augen geblickt wird, stellt sich zugleich die Gottesfrage oder die uralte Thematik der Theodizee. Trakl, der dem geistigen Einfluss Nietzsches nicht fern war, verdichtet diese Gottesfrage:
„Ich sah die Götter stürzen zur Nacht,
Die heiligsten Harfen ohnmächtig zerschellen,
Und aus Verwesung neu entfacht,
Ein neues Leben zum Tage schwellen.“

„es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen“

Nein, so sage ich mir heute aber auch trotzig wie ein Mantra vor: Es soll nicht sein, dass irgendein Leben zerbricht an der Schwere des Lebens, dass irgendwer versucht zu ertrinken sein Leid mit todbringenden Giften, es soll vielmehr sein, dass göttliche Kräfte walten, wo Verzweiflung um sich greift. Und dann sehe ich in all den Zeilen von Trakl, die wie ein Gebet klingen, auch Licht durchscheinen: „Das bin ich.
Gott, nur einen kleinen Funken reiner Freude – und man wäre gerettet.
Liebe, und man wäre erlöst.“

In meinem Kopf und Herzen ist das Gedicht „Menschheit“:
„Hier Evas Schatten, Jagd und rotes Geld.
Gewölk, das Licht durchbricht, das Abendmahl.
Es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen
Und jene sind versammelt zwölf an Zahl. …“
Die Abendmahlserfahrungen, die Trakl hier anspricht, erlebe ich selbst gegenwärtig freilich weniger in den Kirchen, wo zu viel ritualisiert und salbungsvoll abgespult wird, und wo wirkliches Leben sich im Schein der Worte oft nicht findet. Die Lichtfunken gibt es noch in jenen Zuwendungserfahrungen, die fortdauern und manchmal inmitten des Alltags aufleuchten. Im „sanften Schweigen von Brot und Wein“ nehme ich den Zuwendungsgott wahr, wo Brücken gebaut und nicht abgerissen werden. So kann ich selbst die Balance halten, die radfahrend nur in der Bewegung liegt.

traklverlassen

Unter der Mühlauer Eisenbahnbrücke mit ihren steinernen Bögen führt der Radweg. Wenn gerade ein Zug darüberfährt, dann wird Trakls Gedicht „Vorstadt im Föhn“ hörbar und auch das „Donnern eines Zugs vom Brückenbogen“, das darin vorkommt, wird en passant begreifbar. Georg Trakl ist in seiner Innsbrucker Zeit oft da vorbeigekommen, wohnte in der Nähe der beiden Brücken in Mühlau, das damals noch ein eigenständiges Dorf war. Dort ist im neuen Friedhof auch sein Grab zu finden. Sein Todestag war erst vor kurzem und die Stadt Innsbruck ehrte einen ihrer großen Dichter mit einem Blumengesteck. An seinem Grab träumte ich kürzlich von einer Welt, in der die leise Poesie die Einsamkeit lösen und Ungerechtigkeiten aufheben wird. Dann wird es ein gutes Leben für alle geben. Dann werden die schwermütigen Klagegedichte verstummen und hoffnungsvolle Freudenlieder angestimmt. Der Engel auf dem Grabstein Trakls wird dann von seinem „Kot“ befreit werden und tanzen können, ganz ohne jenes Schnapsfläschchen, das irgendwer sinnfällig auf die Grabplatte gestellt hatte. Die neuen Lieder und Tänze haben wohl mit Advent zu tun.

Klaus Heidegger, 5.12.2021
(Bild: ein Banksy in Venedig)