
Tag 1: Marzellkamm, Similaun und Similaunhütte
Freitag, 8.8.2025. Die Kombination von zwei Achten und deren Code lässt mich meine antifaschistische Gesinnung spüren. Ich las noch gestern die Sonntagsfrage im STANDARD – welche Partei würden Sie jetzt wählen und welchen Kanzler würden Sie sich wünschen, könnten Sie jetzt wählen? Das Ergebnis war jedenfalls wieder erschreckend. Ein Votum für Kickl und die FPÖ wäre inzwischen bei 35 Prozent. Die kühle Bergluft, der strahlend blaue Himmel, die wunderbare Bergwelt rund um Vent und vor allem die von Beginn an wohltuende Atmosphäre in der Gruppe des Alpenverein Hall lässt mich aber die Politik erstmals vergessen.
Gruppenbedingt geht es mit E-Bikes von Vent weg. Mit Bio-Bike würde ich mich wohl etwas wohler fühlen. Das Radfahrverbotsschild gleich nach der Ortschaft dürfen wir ignorieren. Dafür nehmen wir uns vor, achtsam und zuvorkommend bei den Wandernden vorbei zu surren. Unterstützt vom Bosch-Motor und dem 750 Wh-Akku lassen sich die Steilstufen auf dem ruppigen Karrenweg locker bewältigen, sodass mir trotz der Kühle des Morgens gar nicht richtig warm wird. Der Weg oberhalb vom Niedertal führt schnurstracks immer südlich Richtung Martin-Busch-Hütte und unserem erstem Gipfelziel zu. Wir sehen den Marzellkamm, der unser Anstiegsweg zum Similaun sein wird. Als ich als Student erstmals auf dem Similaun war, es waren die 80er Jahre, hatte dieser auch im Sommer noch eine durchgehende Eiswand. Der bekannte Pause-Führer aus vergangenen Zeiten schrieb von einer der schönsten Eiswände der Alpen. Jetzt ist die Nordwand großteils eine Felswand.
Von der Martin-Busch-Hütte steigen wir auf gutem und frischmarkiertem Pfad – ein gelbes Wegweisschild zeigte schon „Marzellkamm“ mit schwarzem Punkt – hinauf zum Grat, der sich über zwei Kilometer direkt zum Niederjochferner hinzieht. Trittsicher gehen heißt es an manchen Passagen im Schrofengelände und Geröll, doch gibt es keine Schwierigkeiten und unsere beiden Guides vermitteln ohnehin Kompetenz und Expertise. Kurz vor dem Gletscherkontakt ist noch die Marzellkammspitze (3149 m) mit einem kleinen Holzkreuz. Am Gletscher bilden wir zwei Seilschaften. Anfangs haben die Steigeisen noch Kontakt mit hartgefrorenem Eis. Dann wird der Schnee weich-sulzig. Unsere Spur führt zur Spur, die von der Similaunhütte kommt. Letztmalig war ich im Winter hier. Dort wo das Skidepot war, lassen wir die Steigeisen zurück. Der Grat ist nun großteils felsdurchsetzt. Auf einer Felsplatte sind kleine Geröllsteine. Solche Stellen mag ich nicht. Mein Kopf pocht zudem. Gleich am Anfang lässt mich eine rutschige Felspartie unsicher sein und die Gegenwärtigkeit des Bergführers hilft darüber hinweg. Wo aber fester Fels ist, lässt es sich gut klettern und auf den letzten Metern hin zum Gipfel ist aufgeweichter Firn. Ich hatte die letzten Male auf diesem letzten Abschnitt noch Steigeisen an und ging mit Pickel.
Am Similaun. Auf älteren Karten wird er mit 3606 Metern angegeben. Jedenfalls ist es der achthöchste Gipfel Österreichs. Wir sind die einzigen am Gipfel und nehmen uns Zeit für die 360 Grad-Rundumsicht. Weit unten im hinteren Schnalstal ist der Granatstausee. Mächtig thront im Westen die Weißkugel. Weiter im Süden ist das Dreigestirn von Cevedale, Zebru und Ortler. Im Dunst noch weiter im Westen lässt sich die Berninagruppe erahnen. Im Norden zieht die Hintere Schwärze die Blicke an. Im Osten lassen sich auch die Dolomiten ausmachen und der markante Rücken, der in den Bozner Talkessel hinunterzieht. Davor ist aber noch die Texelgruppe, aus der sich zwei markante Gipfel in hellem Grauweiß von der sonst bräunlichen, dunkelgrauen Berggruppe abheben. Die unteren Gletscherströme des Marzellferners sind bräunlich – das wird das Abschmelzen noch antreiben.
Beim Abstieg versuchen wir sehr bald die steilere Variante über den Gletscher zu vermeiden. Sehenden Auges verwandelt sich das Gletschereis in Wasser und kleine Bäche rinnen zwischen den Steigeisen. Schwache Spuren weisen den Weg hin zum Geröll des Grates, der zum Niederjoch führt. Die weitere Wegfindung ist nicht einfach. Dafür entdecken wir einen wunderbaren Gletschersee mit magischem klarblauem Wasser. Gerne wäre ich da auch hineingegangen. Die Zeit drängt aber. In einem Zick-Zack geht es dort hinunter, wo einst der Gletscher war. Die Similaunhütte steht fast exakt 3000 Meter hoch einladend auf dem Rücken des Niederjochs.
Tag 2: Similaunhütte, Ötzi-Fundstelle, Finailspitze und Martin-Busch-Hütte
Samstag, 9. August. Einige Seilschaften sind schon aufgefädelt auf dem gräulichen unteren Teil des Niederjochferners Richtung Similaun unterwegs. Wir gehen es gemütlicher an. Morgenbläue ist über dem Similaun, von dem sich der Niederjochferner in einem Bogen hinunterzieht. Weiter unten wird er immer gräulicher und endet in einem mächtigen Bach mit hellbraun-grauem Schmelzwasser Bei einem Aufbruch auf 3000 Metern und den Wetterbedingungen ist keine Eile angesagt. Markiert und teilweise versichert ist der Steig zur Ötzi-Fundstelle. Eine eigenartiger Steinobelisk erinnert an den besonderen Fund des Eismannes im Jahr 1991. Weit und breit ist aber hier am Tisenjoch auf 3200 Meter kein Eis mehr zu finden. Hier gibt es seit mehr als 30 Jahren schon keinen Gletscher mehr. So ist auch der Aufstieg zur Finailspitze gletscherfrei. Den Aufstieg wählen wir nach den Schuttpassagen über den Nord-Ost-Grat. Dort ist meist eine sichere Blockkletterei möglich. Kurz vor dem Ausstieg ist noch eine steilere Stelle und der Gipfel (3514 m) selbst ist für uns 11 gerade noch groß genug für eine ausgiebige Rast. Der Abstieg verläuft dann später über das schrofige Blockwerk – Trittspuren und manchmal ein Steinmännchen sind gerade noch erkennbar – zurück zum Hauslabjoch und wir finden unser Depot unweit der Ötzi-Fundstelle.
Der Pfad hinunter zur Martin-Busch-Hütte ist mir wie ein meditatives Ausgehen zu dem auch ein Schlammbad in einem Mini-See zählt. Ich spüre die Dankbarkeit für das Erlebte: Die Bergwelt, die Gemeinschaft mit den anderen – wo Schwächen und Stärken in wechselseitigem Verständnis sein dürfen, für die beiden Guides des AV Hall, die umsichtig und klar die Hochtour vorbereitet und geführt haben. Bei der Martin-Busch-Hütte holt mich das Politische wieder etwas ein. Neben der steinernen Stiege liegt das dicke Gehäuse einer Fliegerbombe aus dem Weltkrieg. Vor 80 Jahren, am 9. August, war der Abwurf der Atombombe auf Nagasaki. Ich denke an die Atomwaffen, die so weit von hier zu existieren scheinen. Mehr als 12.000 sind es weltweit. Sie haben das Potenzial einer multiplen Massenvernichtung. Ich blicke zurück auf die sterbenden Gletscher – wegen des menschengemachten Klimawandels und denke an eine jüngste Umfrage im STANDARD, demnach nur 58 Prozent der österreichischen Bevölkerung glaubt, die Extremwettereignisse und der Klimawandel seien menschengemacht. Jeder dritte Wahlberechtigte in Österreich glaubt deswegen wohl auch, dass sich eine Politik weniger auf den Klimawandel beziehen sollte. Das Politische holt mich ein: Die Nachrichten von den verheerenden Waldbränden in Frankreich, die Extremhitze in Italien, die Dürren in vielen Gegenden dieser Welt. In meinem Hosensack spüre ich die acht kleinen Steine aus glitzerndem Gneis von der Finailspitze. 888 – es lässt sich fühlen.
klaus
(Bild: Blick von der Finailspitze zurück auf den Similaun mit dem markanten Marzellkamm, Fotoc.: Michael.Larcher)